Eisiges Herz
Perry Dorn hätte sich immer in Frauen verliebt, die für ihn unerreichbar waren. »Dabei hätte er viele Freundinnen haben können. Es gab eine Menge Mädchen, die gern mit ihm gegangenwären, er war einfach so klug und so nett. Aber er war immer hinter denen her, die sich nicht für ihn interessierten. Und wenn ihm wieder eine einen Korb gegeben hatte, wurde er depressiv. Dann hat er tagelang nichts gegessen, nicht geschlafen und mit niemandem geredet. Das war regelrecht unheimlich.«
Shelly Lanois, die Schwester des jungen Mannes, erklärte: »Wir sind alle viel zu sehr am Boden zerstört, um einen Kommentar abgeben zu können.«
Der Name Perry Dorn sagte Dorothy Bell nichts, aber sie hätte sein Gesicht eher erkannt, wenn er nicht seine Absolventenmütze auf dem Kopf gehabt hätte. Die Mütze verbarg sein frühzeitig schütteres Haar, aber sie verbarg nicht den dünnen Hals, den übergroßen Adamsapfel und die tiefliegenden, traurigen Augen des jungen Mannes, den sie mehrmals im Wartezimmer ihres Mannes gesehen hatte.
In dem Augenblick, als sie ihn erkannte, begann ihr Herz zu pochen. Ein junger Mann, der gerade ein Stipendium bekommen hatte, entschloss sich, seinem Leben ein Ende zu setzen – und zwar auf spektakuläre Weise. Ein junger Mann, der mehr als genug Gründe gehabt hätte, glücklich und optimistisch zu sein. Ein junger Mann, der ein Patient ihres Mannes gewesen war.
Als Dorothy Frederick kennengelernt hatte – vor über dreißig Jahren – war sie von seiner Intelligenz tief beeindruckt gewesen. Sie selbst war auch nicht gerade eine mittelmäßige Schülerin gewesen, hatte auf der Schwesternschule immer die besten Noten gehabt, aber bei seinen Fähigkeiten konnte sie ihm nicht das Wasser reichen. Er war dunkel und gutaussehend – kein Bart, keine Brille – und hatte einige nervöse Ticks, die sie charmant gefunden hatte. Bereits mit Mitte zwanzig war er in der Londoner Klinik, in der sie beide arbeiteten, eine Art Star gewesen.
Als er sie eines Abends zum Abendessen eingeladen hatte, war sie völlig verblüfft gewesen. Sie hatte sich umgedreht, um zu sehen, ob hinter ihr ein paar junge Ärzte auf dem Korridor standen, die in den Streich eingeweiht waren. Aber es war niemand da.
Damals hatten sie beide kein Geld. Er ging mit ihr in einen nach amerikanischem Stil eingerichteten Schnellimbiss auf der King’s Road, mit einer Musikbox in der Ecke und Heinz-Ketchup-Flaschen auf den Tischen. In jenen Tagen war ein Hamburger in London noch etwas Exotisches gewesen. Nachdem sie längst verheiratet waren, hatte Bell ihr erzählt, dass der Laden sich als wesentlich teurer entpuppt hatte als erwartet und dass das Geld, das er dabeigehabt hatte, gerade gereicht hatte, um die Rechnung zu bezahlen, aber nicht, um noch ein Trinkgeld zu geben.
»Das war mir dermaßen peinlich«, sagte er jedes Mal, wenn er die Geschichte Freunden gegenüber zum Besten gab, »dass ich mich nie wieder in den Laden reingetraut habe.«
Von Anfang an hatte Dorothy sich von seiner Intelligenz und seinem Humor angezogen gefühlt. Er mochte ihre Feinfühligkeit und die Art, wie sie es fertigbrachte, eine trostlose Doppelhaushälfte in ein gemütliches Heim zu verwandeln. Sie waren sich darin einig, dass es keinen Grund gab, ihr angenehmes Leben mit Kindern zu belasten. So hatte Frederick es zumindest gesehen. Dorothy hätte es lieber ausprobiert, doch nach zahlreichen Gesprächen über das Thema war sie zu dem Schluss gekommen, dass er keine Freude an der Vaterrolle haben würde.
Sie dachte immer noch hin und wieder mit Wehmut an jene ersten Jahre zurück. An Wochenenden hatten sie Ausflüge in abgelegene englische Dörfer gemacht und ausgiebige Wanderungen unternommen.
Doch ganz allmählich – sie hätte nicht sagen können, wanngenau es anfing – war ihr junges Glück von Problemen überschattet worden, die in Fredericks Berufsleben auftauchten. Er war überglücklich gewesen, als man ihm eine Stelle als Assistenzarzt an der renommierten Kensington Clinic angeboten hatte. Aber nach anderthalb Jahren hatte er ganz plötzlich entschieden, dass sie nach Swindon ziehen sollten, wo er eine Stelle am Swindon General Hospital antreten wollte. An dem Krankenhaus herrschte eine angenehme Arbeitsatmosphäre, und Dorothy verstand sich gut mit den neuen Kolleginnen, aber dennoch empfand sie es als beträchtlichen Abstieg. Diese Meinung behielt sie allerdings für sich.
In Swindon wurden gegen Frederick Ermittlungen eingeleitet, weil
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