Eisiges Herz
mehr darüber reden.«
»Wieso nicht? Gehört die Luft dem Chief?«
»Nein, aber die Zeit.«
»Keine Sorge. RJ hat eben das Gebäude verlassen.« Arsenault zeigte mit dem Daumen in Richtung Parkplatz. »Hab ihn gerade in einer Limousine abfahren sehen.«
»Danke, dass Sie die Mail an mich weitergeleitet haben. Ich möchte niemanden in Schwierigkeiten bringen.«
»Keine Ursache. RJ ist ein Waschlappen. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass der Daumenabdruck nichts ergeben hat.«
»Überhaupt nichts?«
»Kein Treffer, weder in der örtlichen noch in der nationalen Datei.«
»Also gut. Es war einen Versuch wert.«
»Ich könnte noch ein paar andere Möglichkeiten austesten. Soll ich es versuchen?«
»Passen Sie bloß auf, dass RJ nichts davon mitbekommt.«
Cardinal holte seine Post und hörte seine telefonischen Nachrichten ab, dann setzte er sich an seinen Arbeitsplatz. Aus dem Messingrahmen auf seinem Schreibtisch lächelte Catherine ihn an – dasselbe Lächeln, das ihm das Herz hatte höher schlagen lassen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Cardinal zog seine mittlere Schublade auf, legte das Bild hinein und schob die Schublade wieder zu.
Er sortierte seine Post: Aufforderungen, vor Gericht zu erscheinen, interne Memos, Besprechungsprotokolle der Bewährungskommission, Schreiben von seiner Rentenversicherung und von der Gehaltsabteilung und sonstiger uninteressanter Papierkram, der sofort in den Papierkorb wanderte.
Er öffnete die mittlere Schublade, nahm das Bild heraus und stellte es wieder an seinen Platz.
»Bist du diesmal tatsächlich hier?«
Delorme stellte ihre Aktentasche auf ihrem Schreibtisch ab. Sie wirkte müde und frustriert, ihre Lippen waren leicht zu einem Schmollmund verzogen, aber das war bei ihr nichts Ungewöhnliches.
»Ich bin wieder da«, sagte Cardinal. »Zumindest körperlich.«
Delorme setzte sich und rollte mit ihrem Stuhl zu ihm hinüber. »Ich erzähle dir von einem Fall, der könnte dich auf andere Gedanken bringen.«
»Ach?«
Sie nahm mehrere Aktenhefter aus ihrer Tasche. »Ich habe einen Tatort, aber keine Zeugen, kein Opfer und keinen Täter. Kennst du dich mit Kinderpornographie aus?«
»Ich hatte bisher nur mit wenigen Fällen zu tun. Kes wick – erinnerst du dich an ihn?«
»Keswick war gar nichts. Mach dich auf was gefasst, das dir den Magen umdreht.«
35
L eonard Keswick sitzt vorgebeugt auf der Couch und zerknüllt ein zerfetztes Kleenex. Er ist ein rundlicher Mann, und er wirkt schwach und mutlos, wie ein Fußball, aus dem die Luft gewichen ist. Seine Augen sind groß und wässrig – Glupschaugen wie die eines Bluthundes. Traurig blickt er in die versteckte Kamera.
»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, lamentiert er. »Ich weiß nicht, an wen ich mich mit diesem Problem wenden soll.«
»Nun, Sie haben sich an mich gewandt«, sagt Dr. Bell auf dem Bildschirm. »Das ist doch schon mal ein Anfang, nicht wahr?«
»Ja, aber ich komme einfach nicht weiter. Ich bin jetzt schon seit Monaten bei Ihnen in Behandlung, aber ich spüre keine Besserung.«
Dr. Bell, der sich das Band ein Jahr später noch einmal ansah, nickte zustimmend. »Weil du gar nicht willst, dass es besser wird«, murmelte er vor sich hin. »Du willst es nur nicht zugeben.«
Sein Telefon klingelte, und Dr. Bell hielt das Video an. Er hatte seinen Anrufbeantworter so eingestellt, dass er nach dem ersten Läuten ansprang, damit er hören konnte, wer sprach, ehe er abnahm. Aber er wusste ohnehin, wer es war. Sie hatte bereits zweimal angerufen, und die zweite Nachricht hatte erheblich verzweifelter geklungen als die erste.
»Dr. Bell? Hier spricht Melanie. Gott, Sie sind wahrscheinlich in der Klinik oder in einer Sitzung mit einem anderen Patienten. Bitte rufen Sie mich zurück, sobald Sie dieseNachricht abgehört haben. Es geht mir wirklich ganz, ganz schlecht …«
»Natürlich geht es dir schlecht«, sagte Dr. Bell in den Raum. »Dir geht es doch immer schlecht.«
»Ich hab solche Angst, dass ich es diesmal wirklich tun könnte. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.«
Dr. Bell verschränkte die Hände hinterm Kopf und blickte an die Decke. »Du machst ja endlich Fortschritte.«
»Bitte, rufen Sie mich zurück. Bitte. Es tut mir leid. Ich brauche einfach … Ich … Bitte!«
»Bitte, bitte, bitte«, äffte Bell sie nach. »Gib mir, gib mir, gib mir, ich, ich,
ich
.«
»Dass ich meinen Stiefvater wiedergesehen hab, hat mich echt umgehauen. Es ist, als würde ich
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