Eisiges Herz
begegnet war; er hatte ihn sogar um Rat gebeten. All diese Patienten – auch Catherine – suchten den Arzt aufmit nichts als dem Wunsch nach Hilfe, nach einer starken, verlässlichen Hand, die sie aus dem schwarzen Abgrund der Verzweiflung zog. Wer rechnete schon damit, dass der Mann, der ihnen die Hand reichte, sie mit derselben Hand noch tiefer in den Abgrund stoßen würde? Cardinal musste an die klassische Definition der Verführung denken: hehre Versprechungen, niedere Motive.
Am Datum in der Ecke des Bildschirms ließ sich ablesen, dass das Gespräch mit Keswick vor etwa einem Jahr stattgefunden hatte, in dem Monat, als er sich das Leben genommen hatte. Cardinal ließ den Film ein Stück zurücklaufen und drückte auf die Abspieltaste.
»Sie haben nur gesagt, sie hätten einen Hinweis erhalten«, sagt Keswick verzweifelt.
»Und was glauben Sie, was die damit meinen?«
»Als wenn Sie das nicht wüssten, Doktor Bell.« Cardinal hielt den Film an. »Als wenn Sie das nicht wüssten.«
Er nahm eine weitere DVD aus dem Umschlag. Auf der Vorderseite klebte ein gelber Aufkleber mit der Aufschrift:
Mein herzliches Beileid
.
Als einen Augenblick später Catherine auf dem Bildschirm erschien, blieb Cardinal die Luft weg. Unwillkürlich streckte er die Hand nach ihr aus.
Catherine sitzt leicht vorgebeugt mitten auf der Couch, die Hände zwischen den Knien, eine typische Haltung, wenn sie über etwas redete, was sie sehr beschäftigte, ganz die ernste Studentin.
Bell sitzt entspannt, nachdenklich, ein Bein übers andere geschlagen in seinem Sessel, das aufgeschlagene Notizheft wie immer auf dem Knie.
»Es geht mir in letzter Zeit viel besser«, sagt Catherine. »Erinnern Sie sich, dass ich letztes Mal das Gefühl hatte, kurz vor einer depressiven Phase zu stehen?«
»Ja.«
»Also, das Gefühl ist vollkommen verschwunden. Ich glaube, ich war nur ein bisschen nervös wegen meines neuen Projekts. Ich werde eine Serie von Aufnahmen zu unterschiedlichen Tageszeiten machen – angefangen mit Nachtaufnahmen. Aber ich werde ganz konkrete Uhrzeiten einhalten: 9 Uhr, 18 Uhr und 21 Uhr.«
»Hatten Sie nicht erwähnt, dass es sich um eine Art Luftaufnahmen handelt?«
»Aufnahmen aus großer Höhe, keine Luftaufnahmen. Die erste Serie hatte ich vom Kirchturm aus geplant, aber ich bekomme keine Erlaubnis. Also werde ich meine ersten Nachtaufnahmen heute machen – kennen Sie das neue Gateway-Gebäude in der Nähe der Umgehungsstraße?«
»Ja, das kenne ich. Aber ich dachte, es wäre noch nicht fertig.«
»Es ist fast fertig. Ich habe eine Freundin, die dort wohnt, und ich fahre heute Abend mit einer Kamera zu ihr. Sie bringt mich aufs Dach – die haben dort eine Sonnenterrasse –, und ich werde eine Reihe von Aufnahmen von der Stadt machen. Es soll eine mondklare Nacht werden, was eine spektakuläre Aussicht verspricht.«
Cardinal hörte die Begeisterung in ihrer Stimme, die Bell auch nicht entgangen sein konnte.
»Wird Ihre Freundin bei Ihnen sein?«, sagt Bell. »Ich dachte, Sie arbeiten immer allein.«
»Sie öffnet mir nur die Tür zur Dachterrasse, dann muss sie zu einer Theaterprobe. Ich werde das Dach ganz für mich haben.«
»Was hat sich also seit der letzten Woche geändert? Vergangene Woche waren Sie noch völlig hoffnungslos wegen Ihrer Arbeit.« Bell blättert in seinem Notizbuch. »›Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache‹, sagtenSie. ›Ich habe noch nie etwas Nennenswertes zustande gebracht. Niemand interessiert sich für meine Bilder, und das wird sich wahrscheinlich auch nie ändern.‹«
Ihre eigenen Worte treffen sie tief. Die Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck ist deutlich sichtbar, in ihren Augen, an ihrem leicht geöffneten Mund.
Sie vertraut dir, dachte Cardinal. Sie hat sich dir vollkommen geöffnet. Normalerweise ist Catherine viel zurückhaltender, vor allem, wenn es um ihre Arbeit geht. Aber dir öffnet sie sich. Sie will deine Hilfe. Sie möchte, dass du ihr hilfst, ihre dunklen Gedanken zu verscheuchen. Wie hast du ihr dieses Vertrauen gedankt?
»Das war …«, setzt sie an, dann sinkt sie leicht in sich zusammen. »Das war …«
»Sie hatten in Erwägung gezogen, das Fotografieren ganz aufzugeben. Sie meinten, es sei zwecklos weiterzumachen. Ich möchte nicht grausam sein, aber wir müssen Ihre tiefsten Gefühle ans Tageslicht bringen.«
»Nein, nein, das verstehe ich schon«, sagt Catherine. »Ich hatte ganz vergessen, wie deprimiert ich letzte
Weitere Kostenlose Bücher