Eisiges Herz
viele.«
»Und von denen müsste es jemand sein, der gewieft – undhartnäckig – genug ist, um meine Adresse rauszufinden. Ich stehe schließlich nicht im Telefonbuch. Ich dachte an jemanden aus dem Umfeld von Rick Bouchards Gang.«
Rick Bouchard war ein Gangster übelster Sorte gewesen – selbst im Vergleich zu skrupellosen Drogendealern –, bis er vor einigen Jahren im Gefängnis gestorben war. Cardinal hatte mit dafür gesorgt, dass er für fünfzehn Jahre hinter Gitter kam, und Bouchard, der im Gegensatz zu den meisten Kriminellen über Intelligenz und ein Netzwerk von Beziehungen verfügte, hatte Cardinal bis zu seinem Tod im Visier gehabt.
»Möglich«, sagte Delorme. »Aber wie wahrscheinlich ist das? Wo Bouchard doch längst tot ist.«
»Die kennen meine Adresse, und es passt zu ihrem Stil. Vor ein paar Jahren stand Kiki B. mit einem Drohbrief bei mir vor der Tür.«
»Aber da lebte Bouchard noch, und du hast mir selbst erzählt, dass Kiki sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hat.«
»Setzen solche Typen sich jemals zur Ruhe?«
»Viele Verbrecher werden deine Adresse kennen. Erstens gibt es das Internet. Und erinnerst du dich an diesen Idioten von Journalisten, der vor ein paar Jahren direkt vor deiner Haustür eine Live-Reportage gemacht hat? Das hat eine Menge Staub aufgewirbelt. Wer weiß, wie viele Leute die Sendung gesehen haben?«
»Aber die Sendung ist nicht landesweit ausgestrahlt worden. Ich hab’s überprüft. Sie ist nur im Regionalprogramm gelaufen.«
»Die Regionalprogramme haben große Sendebereiche. John …« Delorme nahm seine Hand in ihre warmen Hände; es kam äußerst selten vor, dass sie ihn berührte. Ihr Gesicht war glatt und weich, und trotz seines Kummers – oder vielleicht
wegen
seines Kummers – kam sie ihm in diesem Augenblick unglaublich schön vor. Ihm war klar, dass sie bei derArbeit ein gänzlich anderes Gesicht zur Schau trug, um sich gegen den alltäglichen Sarkasmus auf dem Revier zu wappnen. Natürlich galt das auch für ihn, es galt für jeden, aber plötzlich erschien ihm Delorme, die einzige Frau in der Truppe, wie der einzige Delphin in einem Aquarium voller Haie.
»Es kann genauso gut ein perverser Nachbar gewesen sein«, sagte sie. »Jemand, der einen Rochus auf die Polizei hat. Es muss doch nicht unbedingt gegen dich persönlich gerichtet sein.«
Cardinal nahm die Klarsichthülle in die Hand. »Der Stempel ist aus Mattawa.«
»Ja, okay … Vergiss es doch einfach. Das hilft dir nicht. Es wird nicht dazu beitragen, dass du dich besser fühlst. Und du würdest dich gegen große Widerstände durchsetzen müssen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob du das durchstehen würdest.«
»Ich wollte dich darum bitten, das zu tun.«
»Mich.« Als sie ihn anschaute, waren ihre Augen nicht mehr so weich.
»Ich kann das nicht machen, Lise. Ich bin persönlich betroffen.«
»Ich kann in dieser Sache keine Ermittlungen durchführen. Es ist schließlich kein Verbrechen, perverse Postkarten zu verschicken.«
»›Man kann einfach nie wissen, was einen erwartet‹«, las Cardinal vor. »Siehst du darin keine Drohung? Unter den gegebenen Umständen?«
»Ich würde es als eine Feststellung bezeichnen. Über das Leben im Allgemeinen. Der Satz enthält keine Drohung.«
»Findest du es nicht mal zweideutig?«
»Nein, John. Der erste Teil ist zweifellos geschmacklos, aber auch keine Drohung. Das Ganze ist nichts weiter als einAusdruck der Schadenfreude. Man kann nicht gegen Leute ermitteln, die Schadenfreude zum Ausdruck bringen.«
»Angenommen, Catherine hat sich nicht selbst umgebracht«, sagte Cardinal. »Angenommen, sie wurde ermordet.«
»Aber sie wurde nicht ermordet. Sie hat einen
Abschiedsbrief
hinterlassen. Sie war manisch-depressiv. Solche Menschen bringen sich reihenweise um.«
»Das weiß ich …«
»Du hast es schwarz auf weiß gelesen. Ich habe ihr Auto durchsucht. Ich habe den Spiralblock gefunden, aus dem sie die Seite herausgerissen hat. Der Kugelschreiber war auch da. Du hast ihre Handschrift sofort erkannt.«
»Ja, sicher, aber ich bin schließlich kein Experte.«
»Niemand hat irgendwas Verdächtiges gehört oder gesehen.«
»Aber das Gebäude wurde erst kürzlich eröffnet. Wie viele Leute wohnen da? Fünf?«
»Fünfzehn Wohnungen sind verkauft. Zehn davon sind bisher bewohnt.«
»Mit anderen Worten, es ist eine Geisterstadt. Wie hoch stehen die Chancen, dass jemand was hätte hören oder sehen können?«
»John, wir haben keine Anzeichen
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