Eisiges Herz
zu sehen ist. Aber es scheint sich immer um dieselben Orte zu handeln. Wir konnten einzelne Elemente im Hintergrund herausvergrößern – Möbel, die Landschaft, die man durchs Fenster sieht, solche Dinge.«
»Und Sie glauben, der Typ wohnt in Algonquin Bay?«
»Entweder wohnt er dort, oder er hält sich häufig dort auf. Wir sind uns nicht hundertprozentig sicher. Wir würden gern Ihre Meinung dazu hören. Falls die Bilder tatsächlich inAlgonquin Bay aufgenommen wurden, werden wir alles tun, um Sie zu unterstützen, aber dann wäre das Ihr Fall. Sind Sie nicht froh, dass ich mich an Sie erinnert habe?«
Aber nicht einmal ein solcher Anruf konnte sie lange von den Gedanken an John Cardinal ablenken. Sein Schreibtisch stand direkt neben ihrem, und es kam äußerst selten vor, dass er nicht zur Arbeit erschien. Selbst als sein Vater gestorben war, hatte er sich nur einen einzigen Tag freigenommen. Das mochte für die Arbeit in der Abteilung von Nutzen sein, dachte Delorme, aber die Unfähigkeit, seine Arbeit mal eine Weile liegenzulassen, war wohl eher Ausdruck von Schwäche als von Stärke.
Delorme wusste, dass sie selbst mehr oder weniger genauso war. An ihren freien Tagen langweilte sie sich, und am Jahresende hatte sie regelmäßig noch Anspruch auf mehrere Wochen Urlaub.
Sie betrachtete das Foto von Catherine, das auf Cardinals Schreibtisch stand. Sie war mindestens fünfundvierzig, als das Bild aufgenommen wurde, hatte jedoch immer noch Sexappeal. Er lag in ihrem leicht skeptischen Blick, in ihrer feucht glänzenden Unterlippe. Man konnte gut verstehen, warum Cardinal sich in diese Frau verliebt hatte. Aber was hast du meinem Freund angetan?, hätte Delorme sie am liebsten gefragt. Warum hast du so etwas Unverzeihliches getan? Andererseits – warum tat jemand so etwas? In den vergangenen Jahren waren unter den Todesfällen, die sie zu bearbeiten hatte, eine Mutter von drei Kindern, ein Angestellter der Stadtverwaltung und ein halbwüchsiger Junge gewesen, die sich alle das Leben genommen hatten.
Delorme schlug den Notizblock auf, den sie in Catherines Auto gefunden hatte, ein kleiner handelsüblicher Block mit dem Schriftzug
Northern University
auf dem Deckblatt.Nach dem Inhalt zu urteilen, hatte Catherine ihn für alle Arten von Notizen benutzt. Telefonnummern und Adressen standen kreuz und quer zwischen Rezepten für Champignoncremesuppe und irgendeine Art Soße, Erinnerungen, dass etwas aus der Reinigung geholt oder eine Rechnung bezahlt werden musste, und Ideen für Fotoprojekte:
Telefonserie – alle Arten von Schnappschüssen von Menschen beim Telefonieren: Telefonzellen, Handys, Funkgeräte, Kinder mit Blechbüchsen, alles
. Oder:
Neue Obdachlosenserie: Porträts von Obdachlosen, allerdings herausgeputzt und feingemacht in guten Anzügen etc., um so viel wie möglich von ihrem »Anderssein« zu eliminieren. Andere Möglichkeiten? Weniger gestellt?
Auf der nächsten Seite stand nur ganz knapp:
Johns Geburtstag
.
Delorme hatte auch den Kugelschreiber. Er war zusammen mit dem Notizblock in Catherines Schultertasche gewesen. Ein einfacher Paper Mate mit sehr heller blauer Tinte. Delorme schrieb die Worte
persönliche Habe
auf einen Zettel und verglich sie mit Catherines Notizen. Es war dieselbe Tinte – soweit sich das ohne Labortest beurteilen ließ.
Und dann war da noch der Abschiedsbrief. Die Handschrift schien dieselbe zu sein wie die in dem Notizblock. Das minimalistische
J
in
John
, das
d
mit dem schwungvollen Aufstrich in
anderen
sowohl in dem Brief wie auch in den Notizen. Was für ein schrecklicher Brief, und doch wirkte die Handschrift weder emphatischer noch zittriger als bei den alltäglichen Notizen. Im Gegenteil, der Brief war ganz besonders säuberlich geschrieben, als hätte der Entschluss zu sterben eine beruhigende Auswirkung gehabt. Aber du hattest einen guten Mann, einen liebevollen, treuen Ehemann. Warum hast du so etwas Schlimmes getan?, hätte Delorme sie gern gefragt. Egal, wie sehr du gelitten hast. Wie konntest du nur?
Sie steckte die drei Gegenstände in einen wattierten Umschlag und klebte ihn zu.
Wenige Stunden später lag der Umschlag geöffnet auf dem Küchentisch in John Cardinals Haus in der Madonna Road. Kelly Cardinal sah zu, wie ihr Vater nachdenklich in dem Spiralblock blätterte. Der Anblick der Handschrift ihrer Mutter schnürte Kelly die Kehle zu. Hin und wieder machte ihr Vater sich eine kurze Notiz in seinem eigenen Block.
»Wie kannst du es nur
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