Eisiges Herz
und so getan, als würde ich eine Adresse suchen oder so, aber ich hab gesehen, wie er ins Haus gegangen ist. Jetzt weiß ich also, wo er wohnt. Zuerst wollte ich meine Mutter anrufen und ihr das alles erzählen, aber dann hab ich’s mir anders überlegt. Sie würde sich viel zu sehr aufregen. Sie kann es nicht mal ertragen, seinen Namen zu hören. Also hab ich meine Mutter nicht angerufen und bin ins Studentenheim gefahren, hab meine neue Radiohead-CD aufgelegt, mich aufs Bett gesetzt und mir die CD bis zum Ende angehört.«
»Woran haben Sie dabei gedacht?«
»An nichts. Ich glaub, ich hab an überhaupt nichts gedacht.«
»Wie haben Sie sich gefühlt?«
»Gut. Besser jedenfalls. So als wäre, ich weiß nicht, als wäre das große Gummiband, das mich die ganze Zeit fast erstickt hat, plötzlich gerissen. So als könnte ich wieder atmen.« Sie sah Bell fragend an. »Wie kann das sein?«
»Nun, einerseits mochten Sie ihn, erinnern Sie sich?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Er hat Sie mit Engelszungen verführt, Sie dazu gebracht, dass Sie ihn mochten, ihm vertrauten. Er hat wundervolle Ausflüge mit Ihnen gemacht.«
»Stimmt. Er ist mit mir nach WonderWorld gefahren.«
»Und er hat Sie mit zum Musical Ride genommen, wie Sie mir erzählt haben. Er hat lauter Dinge mit Ihnen unternommen, die ein kleines Mädchen begeistern.«
»Aber das war es nicht, warum ich mich so gut gefühlt hab, nachdem ich ihn gesehen hatte.«
»Was dann? Können Sie mir das sagen?«
Natürlich wusste er, was es war. Ihren Stiefvater zu sehen, musste auf doppelte Weise positiv für sie gewesen sein. Erstens hatte es ihn auf normale Größe zurechtgestutzt, so dass er nicht länger das überlebensgroße Monster ihrer Phantasie war, sondern ein menschliches Wesen, ein Mann, der bei Radio Shack Batterien kaufte, der wie jeder andere auch auf dem Parkplatz in sein Auto stieg. Das war gut, damit konnte Bell arbeiten. Es war kein so großer Rückschlag, wie er befürchtet hatte. Aber es gab offenbar noch etwas, das sie ihm zu sagen versuchte.
»Hat Ihr Stiefvater Sie gesehen?«, fragte Bell. »Sie sagten, Sie sind ihm auf den Parkplatz gefolgt. Hat er Sie gesehen?«
»Nein.« Sie sagte es mit Nachdruck. Ohne jede Spur von Zweifel.
»Sie haben ihn gesehen, aber er Sie nicht. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?«
»Überlegen.«
Bell nickte. Sollte sie das ruhig glauben. Sollte sie dieser Spur in den dunklen Tunnel folgen.
»Es war, als würde ich einen Vogel beobachten oder so. Ich meine, ich hatte Angst. Ich hatte tierisches Herzklopfen. Aber gleichzeitig hatte ich überhaupt keine Angst. Gleichzeitig hab ich mich richtig gut gefühlt.«
»Als wäre er ein Vogel«, sagte Bell, »und Sie …«
»Eine Katze.«
»Eine Jägerin.«
»Genau. Zur Abwechslung mal nicht die Gejagte.«
Sie lehnte sich zufrieden mit sich selbst im Sessel zurück, die Hände offen, entspannt. Sollte sie ihren kleinen Triumph ruhig auskosten. Am Ende würde sie womöglich sogar aufdie Idee kommen, einen Angriff zu planen. Vollkommen uncharakteristisch. Aber das würde am Ergebnis nichts ändern. Die Kunst der Therapie bestand darin, den Patienten klarzumachen, welche Optionen sie hatten, und ihnen zu helfen, die richtige zu wählen. Aber nur ein mutiger Therapeut, nur ein ehrlicher Therapeut war in der Lage zu erkennen, dass Selbstmord die beste Option war.
Bell würde sie vorsichtig an den Rand des Abgrunds führen, wo sie das einsehen würde: Ja, nur ein Schritt, und alles Elend hätte ein Ende. Um das zu erreichen, musste er die Ruhe bewahren, doch die Wut und die Ungeduld führten schon wieder dazu, dass sein Herz flatterte, dass sein Atem flach und schnell ging. Am liebsten hätte er Melanie ins Gesicht geschlagen, er stellte sich den leuchtend roten Abdruck seiner Hand auf ihrer Wange vor. Aber er holte tief Luft und unterdrückte den Impuls.
»Haben Sie die Phantasie, Ihrem Stiefvater aufzulauern, um ihn zu bestrafen?«
»Also, wo wir jetzt so darüber reden, merke ich, dass ich total wütend auf ihn bin. Ich fände es in Ordnung, wenn er sich bei mir entschuldigen würde. Wenn er irgendwie anerkennen würde, dass er mir was ganz Schlimmes angetan hat.«
Ziemlich schwach, wenn man bedachte, dass Melanie Dinge über ihren Stiefvater erzählt hatte, für die er glatt für Jahre ins Gefängnis wandern würde, wenn es herauskäme. Wenn sie sich entschloss, zur Jägerin zu werden, konnte sie ihre Entschuldigung bekommen und auch ihre Rache. Aber das würde
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