Eisiges Herz
ihre Schuldgefühle mindern und ihr teilweise ihre Depressionen nehmen, und das war keine Lösung. Sie würde sich zu einer Frau entwickeln, die ewig herumjammerte und eine Last für ihre Umwelt war. Er ließ sie noch ein bisschen erzählen von Briefen, die sie vielleicht schreiben, Anrufen,die sie vielleicht machen würde, aber er würde noch einmal ausführlicher mit ihr über die Ereignisse in ihrer Kindheit sprechen müssen.
»Unsere Zeit ist fast um für heute«, sagte Bell, als Melanie endlich einmal Luft holte.
»Ja, ich weiß. Es ist immer ein blödes Gefühl, wenn die Stunde fast vorbei ist.«
»Ich möchte, dass Sie sich bis zum nächsten Mal ein paar Gedanken über einige Dinge machen. Erstens haben Sie den Brief nicht geschrieben wie versprochen.«
»Ach, den Abschiedsbrief? Den hab ich ganz vergessen. Ich meine, nachdem ich meinen Stiefvater gesehen hatte, hab ich einfach nicht mehr dran gedacht.«
»Sie haben überlegt, was Sie ihm vielleicht sagen möchten.«
»Das überlege ich immer noch.«
»Darüber können wir uns unterhalten. Aber zuerst möchte ich, dass Sie diesen Abschiedsbrief schreiben. Wenn Sie Ihre Depressionen überwinden wollen, ist es wichtig, diese Gedanken zu formulieren. Man muss dem Monster einen Namen geben, sozusagen.«
»Ich mache es. Versprochen.«
»Zweitens. Im Moment fühlen Sie sich Ihrem Stiefvater so überlegen, dass Sie glauben, Sie könnten ihn vielleicht dazu bringen, sich bei Ihnen zu entschuldigen. Das wäre tatsächlich eine gute Sache. Ich könnte Ihnen ein Dutzend Lehrbücher nennen, die genau das empfehlen. Aber wir wollen lieber nichts überstürzen.«
»Warum denn nicht? Meinen Sie nicht, er sollte sich für das entschuldigen, was er mir angetan hat? Sehen Sie mich an. Ich bin achtzehn Jahre alt, und an den meisten Tagen komme ich morgens kaum aus dem Bett. Und die halbe Zeit denke ich, es würde mir besser gehen, wenn ich tot wäre.«
»Wenn ich ein Chirurg wäre, würden Sie dann wollen, dass ich Sie überstürzt operiere?«
»Nein.«
»Wenn Sie einen Tumor hätten, würden Sie wollen, dass ich Ihre Chemotherapie abkürze? Selbst wenn die Behandlung Ihnen Übelkeit verursachen würde?«
»Nein, aber ich weiß nicht, ob man das vergleichen kann …«
»Nun, die Entscheidung liegt bei Ihnen, Melanie. Sie sind der Chirurg, nicht ich. Aber ich bin der Meinung, dass wir uns zunächst noch einmal ganz genau ansehen sollten, was Ihr Stiefvater Ihnen angetan hat. In allen Einzelheiten.«
»Ich soll Ihnen in allen Einzelheiten beschreiben, was er getan hat? O Gott, mir wird ja schon bei dem Gedanken ganz schlecht.«
»Solange Sie die Dinge nicht klar zum Ausdruck bringen, behalten sie ihre Macht über Sie. Außerdem könnte es sein, dass Ihnen nicht ganz klar ist, für was genau Ihr Stiefvater sich entschuldigen soll, wessen genau er sich schuldig gemacht hat. Ich finde, über diese Dinge sollten Sie sich absolut im Klaren sein.«
»Ich weiß ja, dass Sie recht haben. Es leuchtet mir wirklich ein, aber …«
»Aber?«
»Es ging mir so gut, als ich hergekommen bin. Und jetzt geht es mir so beschissen.«
»Man braucht Mut, um sich selbst in die Augen zu sehen, um die Dinge zu untersuchen, die einem Angst machen. Aber Sie sind eine starke junge Frau.«
»Das glaube ich nicht. Im Moment fühle ich mich total elend.«
»Also.« Bell erhob sich. »Nächstes Mal werden wir eine Menge zu bereden haben. Dann haben wir Ihren Abschiedsbriefund eine detaillierte Beschreibung all dessen, was Ihr Stiefvater mit Ihnen gemacht hat. Das können Sie auch alles schriftlich festhalten, wenn Sie wollen. Vielleicht fällt Ihnen das leichter, als es mir gegenüber offen auszusprechen. Aber wir werden natürlich darüber reden müssen.«
»Ich glaube, über manche Sachen, die er mit mir gemacht hat, kann ich einfach nicht sprechen.«
»Es besteht kein Grund zur Eile«, sagte Bell. »Wir gehen in dem Tempo vor, das Sie bestimmen, und kein bisschen schneller.«
Melanie nahm ihren Rucksack und stand auf. Alle Energie war aus ihr gewichen, und sie sah wieder aus wie eine ertrunkene Ratte.
»Also gut«, sagte sie. »Dann bis zum nächsten Mal.«
»Auf Wiedersehen, Melanie.«
28
D r. Bell versuchte nur, ihr zu helfen, das war Melanie klar. Er war ein wunderbarer Therapeut, trotz seiner seltsamen Marotten wie das Schulterrollen und das Kopfschütteln. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie würde sich nicht wundern, wenn er plötzlich bellen würde wie ein großer
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