Eisiges Herz
gehabt haben musste, weil er ihn, seinen Sohn, auf so drastische Weise im Stich gelassen hatte, weil er seiner Mutter so unendlich großes Leid zugefügt hatte. Aber er hatte diese Wut nie empfunden. Damals nicht, und heute empfand er sie auch nicht.
Frederick Bells Vater starb im März 1952 an einem Freitagnachmittag. Weder der Junge noch seine Frau waren in seiner Todesstunde bei ihm. Fredericks Tante May war gerade an der Reihe gewesen, an seinem Bett Wache zu halten. Ihrem Bericht zufolge (wie sie jemandem am Telefon
im Flüsterton
erzählte, während der Junge lauschte) war es ein schreckliches Ereignis gewesen. Mr. Bell, der sich während der vorangegangenen drei Wochen kaum noch gerührt hatte, war plötzlich im Bett hochgefahren, das unverbundene Auge weit aufgerissen. Tante May war vor Schreck wie gelähmt. Vor ihr saß ihr Bruder kerzengerade im Bett und starrte fast eine Minute lang vor sich hin.
»Dann hat er angefangen zu sprechen«, berichtete sie. »So als hätte ihm jemand gerade eine schlimme Nachricht überbracht.
O mein Gott
, sagte er. Nicht ehrfürchtig, wie ein Gläubiger. Ich glaube nicht, dass er eine Gotteserscheinung hatte. Er sagte es in einem Ton, als hätte er gerade erfahren, dass eine Schule abgebrannt ist, eine Mischung aus Entsetzen und Staunen.
O mein Gott
, sagte er, dann hat er sich wieder hingelegt. Ich hab versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hat kein Wort mehr gesagt, nur noch einmal gejapst, und das war’s. Jane hat es natürlich schrecklich mitgenommen.«
Jane war Fredericks Mutter, und nach dem Tod seines Vaters waren nur noch sie beide im Haus. Irgendwann räumtesie das Arbeitszimmer seines Vaters um und machte wieder einen Salon daraus, so wie früher, aber trotzdem wurde das Zimmer nie wieder benutzt. Kurze Zeit später waren sie aufgrund finanzieller Schwierigkeiten gezwungen, sich eine bescheidenere Bleibe zu suchen. Sie zogen in eine dunkle, kalte Wohnung, wo sie die nächsten zehn Jahre verbrachten. Als Frederick eines Tages von seinem Aushilfsjob in der örtlichen Apotheke nach Hause kam, fand er an der Tür eine Nachricht in der Handschrift seiner Mutter:
Frederick, komm nicht in die Wohnung. Geh bitte zu Tante May und sag ihr, sie soll einen Arzt rufen
.
Und so folgte Sterbebett Nummer zwei. Diesmal ging es vergleichsweise schnell. Fredericks Mutter hatte eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt, hatte sich jedoch übergeben. Und so brauchte sie drei Tage zum Sterben anstatt der ein, zwei Stunden, die sie zweifellos einkalkuliert hatte. Am Ende war ihre Hirnfunktion derart beeinträchtigt, dass die übrigen Organe versagten.
Frederick musste die Wohnung aufgeben und in einen Kellerraum bei Tante Josephine ziehen. Beim Sortieren der Papiere seiner Mutter fand er einen alten Briefumschlag, auf dem in der Handschrift seines Vaters nur ein einziges Wort stand:
Jane
. Er enthielt folgenden Brief:
Liebe Jane
,
ich werde mich umbringen und dieser Farce ein Ende setzen. Es tut mir leid, dass ich dir solche Unannehmlichkeiten bereite. Aber ich bekomme mich einfach nicht in den Griff
.
Keine Unterschrift, keine Liebeserklärung, kein Wort über ihren gemeinsamen Sohn. Frederick Bell, achtzehn Jahre alt, setzte sich im Schlafzimmer seiner Mutter zwischen Koffern und Kisten aufs Bett und starrte lange auf den Abschiedsbrief seines Vaters.
Zum Glück war er ein intelligenter junger Mann, und er war entschlossen, Erfolg im Leben zu haben. Er absolvierte sein Studium mit Hilfe von Stipendien und Teilzeitjobs. Dank der Unterstützung von Tante Josephine hielten sich seine Lebenshaltungskosten in Grenzen, solange er an der Universität in Sussex studierte.
Nach außen hin gelassen und zu Scherzen aufgelegt, entwickelte Frederick innerlich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Er wollte die Blindheit kurieren, wie er es selbst ausdrückte – die Blindheit der Medizin gegenüber dem Problem des Suizids. Er hatte beide Eltern durch Selbstmord verloren, und beide waren bei Hausärzten in Behandlung gewesen, die sie weder als depressiv noch als suizidgefährdet diagnostiziert hatten.
Er nahm sich vor, die Behandlung suizidgefährdeter Patienten zu perfektionieren. Dabei war er ebenso fasziniert von den Möglichkeiten der Pharmazie wie der Behandlung durch verschiedene Arten der Gesprächstherapie. Bis auf gelegentliche Ausflüge mit einem Ruderboot auf einem nahe gelegenen Fluss widmete er seine ganze Zeit und Energie ausschließlich diesem Thema. Er betrat
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