Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
ging, damit er zur Wohnung Nr. 3A gelangen konnte. Stattdessen war die Frau selbst aus 3A herausgekommen, Hand in Hand mit einem ungewöhnlich großen Mann, größer noch als er selbst. Aber lahm. Ein Krüppel mit einem Stock.
Die Frau war Mary Grace. Dessen war er ganz sicher.
Ein bisschen älter, mit braun gefärbtem Haar.
Und sie hinkte nicht.
Winters presste die Zähne aufeinander. Sie war überhaupt nicht verkrüppelt.
Deswegen hatte man ihre Gehhilfe im Auto gefunden. Sie hatte sie überhaupt nicht mehr gebraucht. Sie war nie lahm gewesen. Langsam kochte die Wut in ihm hoch. Sie hatte ihn belogen. Jede einzelne Schwester, jeder Arzt im Krankenhaus hatte ihn belogen. Alle hatten so getan, als sei sie schwer verletzt. Die arme, arme kleine Mary Grace. Sie war die ganze Zeit über völlig normal gewesen. Sie hatte gelogen.
Und sie hatte ihm den Sohn genommen.
Der große Mann mit dem Stock öffnete die Beifahrertür für sie, und sie stieg ein und lachte über irgendetwas, das er gesagt hatte. Sie hatte einen Geldonkel. Mary Grace ließ sich wie eine Hure aushalten und war keinen Deut besser als Angie, diese Schlampe. Seine Wut verwandelte sich in zornige Flammen. Er ballte die Fäuste. Mary Grace und dieser Mann gingen wahrscheinlich irgendwohin, um es miteinander zu treiben. Wenn er, Winters, mit ihr fertig war, würde sie den Tag bereuen, an dem sie den Kerl kennen gelernt hatte. Wenn er fertig war, würde sie es bereuen, überhaupt geboren zu sein.
Mit einiger Mühe beherrschte Winters seine Wut und konzentrierte sich wieder auf das Nächstliegende.
Robbie.
Sein Sohn war oben in der Wohnung Nr. 3A. Allein. In diesem Augenblick.
Er schlüpfte zur Hintertür hinaus und ging zurück zu seinem Mietwagen, den er in einer Gasse angestellt hatte, öffnete den Kofferraum und entnahm ihm den Overall, den er vorsorglich dort verstaut hatte. Ein Mann in Arbeitskleidung wurde selten beachtet. Der alte Mann auf der Haustreppe würde denken, er wäre der Fernsehmechaniker. Ein kleiner Werkzeugkasten und eine unauffällige braune Perücke vervollständigten seine Tarnung.
Er betrat das Haus durch den Haupteingang und nickte dem alten Mann zu.
»Ein bisschen spät für einen Hausbesuch, wie?«, fragte der Alte und blickte zu ihm auf.
Winters musterte ihn unter gesenkten Lidern. »Ich bin spät dran. Das hier ist mein letzter Einsatz für heute.«
Der Alte blinzelte zu ihm auf. »Von welcher Firma kommen Sie, junger Mann?«
Winters unterdrückte seinen Zorn. Neugieriger alter Scheißer. Er überlegte blitzschnell. »Drei-A-Vertragsgesellschaft.« Er nickte dem Alten kurz zu, stieg die Treppe hinauf und beachtete den alten Knacker nicht, der ihm mit einem Stirnrunzeln über die Schulter hinweg nachschaute.
Erstaunlich schnell hatte Winters Mary Graces Schloss geknackt. Sie war wohl ganz schön vertrauensselig geworden.
Das würde sich bald ändern.
Sein Herz klopfte voller Vorfreude, als er die Tür aufstieß und ins Wohnungsinnere spähte.
Es war still. Still wie in einem Grab. Enttäuschung überkam ihn.
Robbie war nicht hier. Aber er war hier gewesen. Langsam durchschritt Winters das kleine Wohnzimmer, und sein Blick fiel auf eine Sammlung Fotos auf einem kleinen Holzregal.
Robbie. Sein Sohn. Winters griff nach dem Foto am äußersten Ende des Regals. Sein Sohn war zu einem Mann herangewachsen. Groß, blond, athletisch und gut aussehend. Robbie war ein attraktiver junger Mann. Stolz ließ seine Brust schwellen, während ihn gleichzeitig der Schmerz wegen der verlorenen Jahre packte. Er griff nach einem weiteren Foto – Robbie im Basketball-Dress, den Ball lässig unter den Arm geklemmt. Sein Sohn spielte Basketball. Winters runzelte die Stirn. Er hätte Football spielen sollen. Für Robbie war von Anfang an Football vorgesehen gewesen.
Wie ich.
Aber er spielte kein Football. Trotzdem war Winters stolz. Sein Sohn war der beste Spieler des Jahres gewesen … einmal, zweimal, dreimal; er zählte die Pokale. Dann trat er einen Schritt näher und unterdrückte hastig den Schrei, der aus ihm herausbrechen wollte.
»Tom Stewart«, las er laut mit eisiger Stimme. Sie hatte ihren Namen und den seines Sohnes geändert. Versagte seinem Sohn das Erbe, sogar seinen eigenen Namen. »Dafür wird sie büßen«, flüsterte er.
Er stellte die Trophäe zurück auf ihren Platz, sorgsam darauf bedacht, die dünne Staubschicht auf dem Regal nicht zu verwischen. Er wollte eines der Fotos von seinem Sohn für sich
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