Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
Sohnes aus und machte sich an den Pokalen auf seiner Kommode zu schaffen. Wahllos griff sie einen davon heraus, drehte ihn um und betrachtete die Unterseite des Sockels, als wären dort Worte von großer Weisheit zu lesen. Sie fand aber keine.
Sie hörte Toms Bettfedern knarren, dann seinen schweren Seufzer.
»Liebst du ihn, Mom?«
Welch eine Frage aus dem Mund eines Vierzehnjährigen. Doch sie verlangte nach einer Antwort. Behutsam stellte sie den Pokal zurück auf seinen Platz und drehte sich zu dem Jungen um, der von Umständen, die außerhalb seiner Kontrolle lagen, gezwungen worden war, schon frühzeitig zum Mann zu reifen. Sie schuldete ihrem Sohn die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. »Ja.« Er senkte den Blick zu Boden und krallte die Finger in seine Bettdecke. »Er sagt, dass er mich auch liebt«, fügte sie hinzu und sah, wie sich seine Hände allmählich entkrampften.
Endlich hob Tom den Kopf. »Das freut mich.«
Caroline stieß den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte. »Tatsächlich?«
Er lächelte. Nicht das süße, charmante Lächeln, das er ihr schenkte, wenn er sie zum Lachen bringen oder ihren Ärger vertreiben wollte, sondern ein nüchternes Lächeln, das die Sorge in seinen Augen nicht überdecken konnte. »Ja, tatsächlich. Du hast es verdient, glücklich zu sein, Mom. Du hast es verdient, von jemandem geliebt zu werden, der dir keine Angst einjagt.«
Caroline versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, doch er war zu groß. »Ich glaube, dich habe ich gar nicht verdient«, flüsterte sie.
Tom hob eine Braue, und sein charmantes Lächeln kehrte zurück. »Nein, hast du wirklich nicht.«
Sie lachte unter Tränen, griff nach einer seiner kleineren Trophäen und warf sie, ohne Schaden anzurichten, aufs Bett, wo sie mit gedämpftem Aufprall auf dem Kissen landete. »Geh zelten, mein Junge. Und wenn du Bauchschmerzen bekommst, weil du das ganze Wochenende über nichts als Hotdogs gegessen hast, dann beklage dich gefälligst nicht bei mir.«
Chicago
Freitag, 16. März, 17:00 Uhr
Winters zog die gefaxten Seiten aus dem Umschlag, der ihn in seinem anonymen Postfach erwartet hatte, und war hochzufrieden mit Randy Livermores Arbeit. Den Jungen würde er sich merken, für den Fall, dass er einmal einen Geschäftspartner brauchte. Livermore arbeitete schnell, gründlich und diskret.
Winters war jetzt im Besitz einer Liste von Frauen, komplett mit Adressen und Telefonnummern, die vor sieben Jahren in Hanover House aufgenommen worden waren und die nach den Auskünften des Kraftfahrzeugamts kleiner als einsachtundfünfzig waren. Bis Montag würde er über die zu den Namen gehörigen Fotos verfügen. Randy arbeitete wirklich gewissenhaft. Im Augenblick würde Winters blind weitersuchen, die Namen prüfen und sämtliche Variationen von Mary und Grace gelb markieren. Es gab Dutzende. Mary Anne, Mary Beth, Mary Francis …
Winters hielt inne. Von dem Blatt sprang ihm ein einzelner Name ins Auge.
Mary Grace würde doch nicht …
Vielleicht war es ihr gar nicht bewusst. Vielleicht war es auch so eine Art Freudsche Assoziation.
Höchstwahrscheinlich aber war sie einfach dumm, wie er ja längst wusste.
Winter hob den Namen mit gelbem Marker hervor und betrachtete ihn minutenlang.
Während der ersten dreiundzwanzig Jahre ihres Lebens hatte Mary keinen Fuß über die Grenze von North Carolina hinaus gesetzt …
Möglich war es durchaus.
Caroline Stewart.
Möglich war es.
Er holte seinen Stadtplan von Chicago hervor. Miss Caroline Stewart wohnte nicht allzu weit von hier entfernt.
Winters zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Sein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken, dass er seiner Beute dicht auf den Fersen war. Robbie hielt sich womöglich ganz in seiner Nähe auf. Bis zur Schlafenszeit würde Winters es genau wissen.
Und wer konnte schon sagen, was dann passierte? Die Schlafenszeit würde er vielleicht zum ersten Mal seit sieben Jahren unter eher … intimen Bedingungen erleben.
Er warf noch einen Blick auf den hervorgehobenen Namen. Ja, es war durchaus möglich.
Chicago
Freitag, 16. März, 18:30 Uhr
Caroline öffnete die Tür, noch bevor Max hatte anklopfen können. Toms Einlenken hatte ihr eine Bürde von den Schultern genommen, und sie freute sich auf diesen Abend wie auf keinen anderen bisher. »Hi«, sagte sie in dem Wissen, dass es albern klang und dass ihr Lächeln zu breit war, aber das war ihr völlig egal.
Max
Weitere Kostenlose Bücher