Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
blanken Spitzen seiner Schuhe waren nur einen Zentimeter von ihren entfernt. Sein Stock, den er hatte fallen lassen, um ihren Sturz zu verhindern, lag auf dem Teppich. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie sich danach greifen, ihn zu ihrer Verteidigung benutzen.
Doch dann sprach er sie an, und Besorgnis klang aus seiner Stimme. »Caroline, ist alles in Ordnung?«
Sie hob langsam den Blick und betete, dass sein Zorn verschwunden war. Dann stockte ihr der Atem. Der Zorn war tatsächlich verraucht, und an seine Stelle war eine völlig unerwartete Sanftheit getreten.
»Es tut mir Leid.« Seine Stimme klang jetzt weicher, und seine Hände schwebten über ihren Schultern, den Bruchteil eines Zentimeters vor der Berührung. Doch er fasste sie nicht an. Packte und verletzte sie nicht. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ist alles in Ordnung?«
Sie nickte, unfähig, über den Kloß in ihrem Hals hinweg ein Wort hervorzubringen.
Er zog die Brauen zusammen, und plötzlich wirkte seine Miene autoritär. »Dann sagen Sie etwas. Sie machen mir Angst.«
Caroline räusperte sich. Ihr Hals und ihr gesamter Körper schmerzten von der Muskelanspannung, besonders der Rücken. Immer wenn sie sich zu sehr verkrampfte, bekam sie Rückenschmerzen, aufgrund der Verletzung, die sie sich vor so vielen Jahren zugezogen hatte. Vor neun Jahren, genau gesagt.
Vor neun Jahren.
Sie hob das Kinn, schaffte es allein durch ihre Willenskraft, dass die Angst nachließ und ihre Muskeln sich entspannten. Neun Jahre waren vergangen, seit
er
sie die Treppe hinuntergestoßen hatte. Sieben Jahre seit ihrer Flucht. Sieben Jahre voller Angst, in denen sie stets über die Schulter zurückgeblickt hatte. Jedes Mal einen Schritt zurückgewichen war, wenn jemand sie berühren wollte.
Wie lange wollte sie noch zulassen, dass
er
ihr Leben beeinträchtigte?
Er.
Ein übler Mistkerl, dem es Lust bereitete, Schwächere zu terrorisieren. Erinnerungen an Danas jahrelanges Training wurden in ihr wach und etwas, ein Körnchen Weisheit begann endlich zu wirken.
Sprich seinen Namen aus
, befahl sich Caroline
. Rob Winters. Rob Winters kann dir nichts mehr antun.
Rob war fort. Mary Grace war fort. Caroline war hier.
Ich bin hier, und ich bleibe hier
, dachte sie.
Dann bleib auch, Caroline. Hör auf wegzulaufen.
Sie lief immer noch davon. Nicht mehr von gewissen Orten, sondern vor Menschen. Wie lange wollte sie noch zulassen, dass Rob Winters sie von anderen Menschen isoliert hielt?
Das musste ein Ende haben. Heute.
Jetzt.
Sie konnte ihrer Angst aus eigener Kraft ein Ende setzen, und diese Erkenntnis verlieh ihr Stärke und ein plötzliches Hochgefühl, so intensiv, dass ihr schwindlig wurde. Es war aufregend, elektrisierend. Es war …
Die Wirklichkeit holte sie ruckartig zurück, als Max vor ihrem Gesicht mit den Fingern schnippte. »Caroline, sagen Sie etwas, oder ich hole die Krankenschwester. Sie sind weiß wie die Wand.«
Caroline verkrampfte sich, als Scham das aufregende Gefühl, Herrin ihres eigenen Schicksals zu sein, verdrängte. Vor ihr stand die Wirklichkeit in Gestalt eines einsfünfundneunzig großen, äußerst attraktiven Mannes mit ungeheurem Sexappeal, der sie in diesem Moment ansah, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.
»Ist schon gut«, brachte sie hervor und holte tief Luft. »Mir fehlt nichts.« Sobald sie sich wieder beruhigt hatte, würde das sogar zutreffen. Dass sie innerlich einen Entschluss gefasst hatte, bedeutete schließlich nicht, dass sie gleich Superwoman oder Dr. Laura war. Sie wollte allein sein, sich irgendwohin zurückziehen, wo sie die Vorfälle der letzten zehn Minuten verarbeiten und sich ungestört den Nachwirkungen des Schocks hingeben konnte. »Verzeihung. So etwas passiert mir gewöhnlich nicht.« Sie ging um den Karton mit dem Büromaterial herum. »Ich werde Ihnen jetzt erst einmal aus dem Weg gehen.«
»Caroline, warten Sie. Setzen Sie sich.«
Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch da hatte er sie bereits auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch gesetzt.
»Halten Sie bitte einen Augenblick still.« Langsam ließ er sich auf ein Knie nieder, griff nach seinem Stock und stemmte sich mit dessen Hilfe wieder hoch. Dann trat er an ihren Stuhl heran. Seine Miene war immer noch sehr besorgt. Er legte seine Hand leicht auf ihre Stirn. »Fühlen Sie sich wirklich gut? Sie sehen so blass aus. Wenn Sie krank sind, sollten Sie besser zu Hause in Ihrem Bett liegen.«
Sie wäre am liebsten im Boden
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