Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
jemand um Hilfe geschrien und da kann ich nicht einfach weitergehen«, antwortete sie.
Ihr Vater füllte sich den Teller mit karamellisierten, braunen Kartoffeln.
»Du kannst nicht die ganze Welt retten, die ist verdammt noch mal verdorben und verrottet.«
Es folgte eine ganze Weile des Schweigens.
»Aber vielleicht habe ich ja gar nicht das Recht, dich zu fragen«, nahm ihr Vater nach den ersten Bissen das Thema wieder auf. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde. »Wir wohnen hier still und friedlich und kümmern uns um unsere Angelegenheiten und dann läuft die eigene Tochter durch die Gegend und findet eine Leiche nach der anderen und stellt das Leben der anderen auf den Kopf. Die Leute reden über uns.«
Kir legte die Gabel beiseite.
»Dann lass sie reden. Das ist mein Beruf.«
Auch ihr Vater legte sein Besteck an den Tellerrand.
»Soweit ich informiert bin, gehört es nicht zum Beruf eines Minentauchers, Leichen in Hotels zu finden. Wenn wir es nicht mit einer Überschwemmung zu tun haben. Einem Tsunami oder so etwas.«
»Das ist mein Beruf«, wiederholte Kir mit fester Stimme. »Ich war gerade in der Gegend, weil ich mich nach Zimmern für meine Kollegen umhören wollte.«
Ihr Vater schnaufte.
»Die haben doch eine Unterkunft. Außerdem, was hast du damit zu tun? Das bezahlt doch die Polizei?«
»Das ist meine Stadt«, entgegnete Kir. »Ich wollte ein gutesAngebot für sie aushandeln, aber jetzt ist es sowieso zu spät. Heute war der letzte Tag.«
Jetzt endlich meldete sich Blackie zu Wort, während er auf einem Stück Schwarte kaute.
»Habt ihr nicht mehr als die eine Leiche im Hafenbecken gefunden?«
»Die und ein paar Gegenstände«, antwortete Kir ausweichend.
Sie durfte niemandem davon erzählen, auch keinem Familienmitglied.
»Gegenstände?«
Blackies Augenbraue hob sich. Kir zuckte mit den Schultern.
»Ich habe die Leiche gefunden, mehr nicht. Aber sie haben sie mittlerweile identifizieren können. Es war, wie ihr bestimmt gehört habt, nicht diese Nina Bjerre. Sie wird wahrscheinlich noch irgendwo dort draußen sein, wahrscheinlich auf dem Weg nach Norwegen.«
»Warum das?«, fragte Tomas.
Sie erläuterte ihre eigene Theorie, dass Nina den Mörder von Tora überrascht hat und deshalb ertränkt wurde. Und warum die Strömung die Leiche aller Wahrscheinlichkeit nach Richtung Norwegen treiben würde.
»Sie wird wieder auftauchen«, sagte sie. »Die tauchen alle irgendwann wieder auf.«
Zumindest hatte diese Unterhaltung das Verhör ihres Vaters unterbrochen, allerdings war das hier auch nicht viel besser. Den Rest des Essens verbrachte sie damit, so gut es ging weiteren Fragen auszuweichen. Sie unterdrückte den Impuls, einfach aufzustehen, ihnen ihre Meinung zu sagen und wegzurennen. Denn sie waren keine Familie, da saßen vier Menschen, die durch Blutsbande mit ihr verbunden waren. Nicht mehr. Aber sie würde es bereuen und es würdeMonate dauern, es wiedergutzumachen. Denn sie verstanden sie einfach nicht. Aber sie liebte sie, das war das eigentliche Problem daran. Sie hungerte danach, dass sie einander nahestanden und sich was zu sagen hatten. Sie hatte die Erinnerung, dass es in ihrer Kindheit so gewesen war. Das Verhältnis zu ihren Brüdern und vor allem zu der Mutter. Aber das musste ein Missverständnis sein, eine Illusion. Etwas war kaputtgegangen und sie wusste auch genau, wann das geschehen war.
Sie brachte das Essen ohne größere Wunden hinter sich, beantwortete ihre Fragen, aß die Zitronencreme und verabschiedete sich mit der Ausrede, dass sie sehr müde sei.
Als sie in ihrem kleinen Sommerhaus ankam, war sie bis auf die Knochen durchgefroren. Sie machte ein Feuer im Kamin und schenkte sich einen Whiskey ein. Aber wie nah sie sich auch ans Feuer setzte, es wollte ihr einfach nicht warm werden. Ihre Zähne klapperten und ein Schauer nach dem anderen fuhr ihr über die Haut, als würden Geister an ihr vorbeistreichen. Vielleicht war es ja auch so. Onkel Hannibals Geist, Nina Bjerres, Grys und Toras Geister. Wie sie sich auch drehte und wendete, strich ihr ein kalter Hauch über den Nacken. Ihr Leben war gepflastert mit leblosen Wesen und nicht alle von ihnen meinten es gut mit ihr.
Die Familie. Keiner von ihnen hatte ihr jemals verziehen. Es hatte mit dem Tag zu tun, als sie vom Boot gesprungen war, um ihren Bruder Tomas zu retten. Aber er hatte eine Hirnschädigung davongetragen. Vor zwei Jahren war dieser Tag Gegenstand eines solchen Familienessens gewesen.
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