Eiskalt wie die Nacht: Thriller (Dicte Svendsen ermittelt) (German Edition)
eine Zukunft gehen. Aber er hatte keine Wahl. Sein Blick wanderte in den Himmel. Eine weitere frostklare Nacht.
Aber es hatte sich noch etwas anderes verändert. Er konnte nicht genau sagen, was es war, auch nicht, ob es sich gut oder falsch anfühlte. Es war vielmehr so, als hätte sich etwas in ihm in Bewegung gesetzt. Als würde etwas, das jahrelang tiefgefroren in ihm gelagert hatte, langsam auftauen.
Da hörte er ein Geräusch. Das Knarren einer Treppenstufe? Kam Felix die Treppe hoch? Würde sie gleich in ihrem dünnen T-Shirt vor ihm stehen? Würde sie sich wortlos zu ihm in den Schlafsack gleiten lassen und sich ihm aus Dankbarkeit hingeben? Und würde er es annehmen? Er wollte nicht bezahlt werden für seine Hilfe.
Er lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Hoffentlich würde er stark genug sein, um sie wegzuschicken. Aber das Geräusch verstummte und er schlief erleichtert und enttäuscht zugleich ein.
K APITEL 31
Kir steuerte den Toyota die verschneite Schotterstraße zum Schneckenhaus hinauf. Sie hörte Onkel Hannibals Stimme sagen:
»Unter Wasser klingt kein Schiff wie das andere.«
Das freistehende Haus hatte einen unverstellten Blick auf das kleine Wäldchen Nederskov. Sie hatte den Großteil ihrer Kindheit dort verbracht. Aber jetzt fiel die Fassade in großen Placken ab und das Dach war so dicht mit Moos bedeckt, dass es einem Reetdach ähnelte. Daneben stand die alte Scheune, die aussah, als würde sie jeden Augenblick in die Knie gehen können.
Das »zu verkaufen«-Schild war wieder entfernt worden, es hatte ohnehin nie einen interessierten Käufer gegeben. Wahrscheinlich, weil sie sich nie die Mühe gemacht hatten, es in Stand zu setzen. Außerdem hatte Blackie den alten Stall als Lager für seine Kneipe benutzt, die er in Grenå eröffnet hatte. Die Zeiten standen nicht gut für so ein Business, aber Blackie hatte wie eh und je seinen Kopf durchgesetzt. Sie hatte den berechtigten Verdacht, dass ihr Vater ihm dafür Geld geliehen hatte, auch für Blackies schicke Wohnung unten am Fluss. Blackie war der Erstgeborene und hatte schon allein dadurch einen besonderen Status innerhalb der Familie. Tomas und sie hatten sich dem unterzuordnen. Tomas wohnte noch zu Hause. Wahrscheinlich würde er eines Tages den Hof übernehmen. Sie wohnte zwar in ihrem kleinen Sommerhaus, aber im Schneckenhaus war sie immer gerne gewesen, dort konnte sie frei atmen und fühlte sich willkommen.
Sie wollte nach dem Rechten sehen, die Heizung überprüfen. Die Rohre konnten bei dieser Eiseskälte leicht platzen und ein Wasserschaden entstehen. Aber das war natürlich nicht der einzige Grund, warum sie gekommen war.
Sie betrat das Haus und ging von einem Zimmer ins nächste. Die Türen knarrten und die Dielen gaben unter ihrem Gewicht nach. Dabei ließ sie sich tiefer und tiefer in ihre Kindheitserinnerungen fallen, in eine Welt, die sie liebte, die sie alle Ereignisse und Bilder der vergangenen Tage vergessen ließ. Die Leiche aus dem Hafenbecken, die Panik, die sie übermannt hatte, den Schock, als sie das entstellte Gesicht des Mädchens im Leichensack gesehen hatte. Alles verschwand und es blieben nur die Gerüche und Geräusche ihrer Kindheit zurück. Das rote zerschlissene Plüschsofa mit Kissen aus einer Zeit, in der Frauen – wahrscheinlich ihre Urgroßmutter – abends mit Nadel und Faden saßen. In der Ecke verstaubte eine Stehlampe, an deren Fuß sich Messingschlangen umeinander wanden, weiter hinten stand ein alter Tauchanzug, der aussah wie ein Außerirdischer: am Visier waren schwere Scharniere angebracht, die Schuhe aus Blei. An der Wand hing ein Rettungsring eines alten Fischkutters, der Malene von Grenå . Daneben hingen auch Fotos, schwarz-weiß und in Farbe, von verschiedenen Tauchexpeditionen in Dänemark und im Ausland. Junge, kräftige Männer, die im Wasser schwammen und in die Kamera winkten, die Tauchermasken in die Stirn geschoben. Sie schnorchelten im Schilf eines Sees oder johlten aus einem Eisloch im Norden von Norwegen. Es gab auch Taucher, die stolz neben Minen posierten, die voller Algen und Tang hingen. Sie musste an Onkel Hannibal denken und an seine Äußerung über die Minen in den dänischen Gewässern: »Die Deutschen haben uns die Dinger schön säuberlich und systematisch vor die Küste gelegt. Die Engländer aber haben sie einfach wahllos aus der Luft abgeworfen.«
Es war kalt im Haus. Sie nahm sich eine alte Decke, wickelte sich darin ein und setzte sich auf das
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