Eiskalt Wie Die Suende
aufzubrechen. So bin ich zumindest vorhin ins Haus gelangt. Was, wenn ich nicht ich, sondern er gewesen wäre?â
âNa, was wohl? Dann hätte ich ihm mit meiner Hutnadel die Augen ausgestochenâ, erwiderte sie.
âWoraufhin er dich mit seinem Schlagstock ziemlich wüst traktiert haben dürfte.â
âWahrscheinlich würde er mich kurzerhand erschossen habenâ, meinte Nell trocken.
âDich erschieÃen ? Man lässt diesen Schwachkopf eine Waffe tragen?â
âAlle Constables scheinen jetzt eine zu tragen.â
âUnd wenn man bedenkt, dass viele von ihnen mal selbst als Diebe und Schläger angefangen haben! Sie hatten nicht das Zeug für eine erfolgreiche Verbrecherkarriere, also sind sie auf die Gegenseite gewechselt. Schlimm genug, dass man ihnen Uniformen und Dienstmarken gegeben hat â aber dass sie jetzt sogar bewaffnet sind?â Sichtlich entsetzt schüttelte Will den Kopf. âDu kannst bei mir wohnen.â
âWas?â
âDa bist du wenigstens in Sicherheit.â
âWill, du weiÃt ganz genau, dass das nicht geht. Was sollte deine Haushälterin denken? Und die Nachbarn?â
Mit einem reuigen Lächeln meinte er: âAls ob ich mich jemals um die Meinung anderer geschert hätte.â
âNein, du nicht â aber ich. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, das weiÃt du ganz genau, Will. Wenn man mich nun Tag und Nacht bei dir ein- und ausgehen sähe, wäre ich ruiniert.â
âJa, aber â¦â
âWill, warum bist du so bald schon zurückgekehrt?â, unterbrach sie ihn, da sie das Thema gern wechseln wollte. âDu hattest mir auf meine Frage noch nicht geantwortet.â
Er stand auf, schlenderte im Zimmer umher und schaute sich im Halbdunkel neugierig um. âSehr schönâ, meinte er, als er ihre neuen Zeichnungen betrachtete, die sie mit Nadeln an der Wand befestigt hatte. âBesonders diese kleine Skizze von Gracie. Du hast das Leuchten in ihren Augen gut eingefangen.â
âDankeâ, erwiderte Nell. Sie wunderte sich, dass er so ausweichend reagierte. Warum wollte er ihr nicht sagen, warum er so bald aus Shanghai zurückgekehrt war? âSie fängt jetzt übrigens an, ziemlich heikle Fragen zu stellen.â
âDas machen Kinder in diesem Alter nun mal.â
âFragen über ihre Herkunft, Will. Sie hört Dinge, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt sind, und aus denen sie sich früher oder später die Wahrheit zusammenreimen wird.â
âUnd was hört sie so?â
âWer sie gezeugt hat beispielsweise.â
Schweigend betrachtete Will die Zeichnungen.
âIch kann die Wahrheit nicht für alle Zeit von ihr fernhalten, Will. Eines Tages wird sie es erfahren, und ich glaube, es wäre gut, wenn sie es von dir erfahren würde.â
âIch dachte, das hätten wir längst geklärt, Nell. Kein junges Mädchen dürfte einen Mann wie mich gern zum Vater haben wollen.â
âAber du bist für sie doch längst zur Vaterfigur geworden! Und sie beharrt noch immer darauf, bei uns leben zu wollen, wenn wir erst mal verheiratet sind.â
Seufzend und scheinbar tief in Gedanken versunken nahm Will seinen Rundgang durch ihr Zimmer wieder auf. Vor der Kommode blieb er schlieÃlich stehen, stutzte kurz und zog den grauen Seidenschal aus der Schublade: âIst das meiner?â
Sie zögerte und spürte, wie ihre Wangen sich röteten. âJa, es ⦠es ist der Schal, den du am Tag deiner Abreise getragen hast. Du hattest ihn verloren, als du dem Zug hinterhergerannt bist. Ich habe ihn für dich aufbewahrt. Und deinen Hut auch.â
Gedankenverloren stand er da und betrachtete den Schal. Nach einer ganzen Weile sagte er: âShanghai hat sich nicht verändert. Noch immer zwielichtig, geheimnisvoll und lasterhaft. Auf seine Art sehr verführerisch â wenn man für derlei empfänglich ist.â
Sie musste es einfach fragen. âHast du Opium geraucht?â
Er lieà sich so lange mit seiner Antwort Zeit, dass sie schon glaubte, er habe sie nicht gehört. âJaâ, sagte er schlieÃlich.
4. KAPITEL
âOh, Will.â
âNur einmalâ, sagte er über die Schulter gewandt. âEines Abends, am Spieltisch. Ich hatte mehr getrunken, als gut für mich war â doch ich konnte nicht anders, ich fühlte mich so einsam â, und
Weitere Kostenlose Bücher