Eiskalt Wie Die Suende
natürlich wurde ich unvorsichtig und begann zu verlieren. Danach bin ich ziellos umhergelaufen, durch die schmalen, dunklen Gassen, habe geraucht, nachgedacht â¦â
Er rieb sich den Nacken, schaute sie an, sah dann beiseite. âSchlieÃlich bin ich dem Geruch des Opiums gefolgt und in einem heruntergekommenen Hinterzimmer gelandet. Als ich dort am nächsten Morgen erwachte, die Opiumpfeife noch immer in der Hand, wäre ich vor Scham am liebsten im Boden versunken. Es hat mich so viel Anstrengung gekostet, war mit so viel Schmerz und Elend verbunden, von diesem Gift loszukommen. Ich habe an dich gedacht, wie enttäuscht du gewesen wärst, wie entsetzt und angewidert, hättest du mich so sehen können.â
âIch hätte es wohl verstandenâ, sagte sie.
âWeil du meine Schwächen kennstâ, meinte er und sah sie an. âDu hast dich nie irgendwelchen Illusionen über mich hingegeben. Aber wie hättest du auch, angesichts der Verfassung, in der ich war, als du mich kennengelernt hast. Du weiÃt genau, wie verkommen ich bin, und doch gibst du dich mit mir ab.â
âIch gebe mich nicht nur mit dir ab, Willâ, erwiderte sie ganz ruhig.
Ihre Blicke trafen sich, und sie wusste, dass auch er an jenen letzten Moment am Bahnhof dachte â die Tränen, der qualvolle Abschied ⦠der atemberaubende Kuss.
Nur ein einziger, hatte er sie gebeten. Um einen zweiten würde ich dich nicht bitten. Niemals. Versprochen. Und dann werde ich in Boston bleiben, und wir tun, als wäre nichts gewesen und machen einfach so weiter wie bisher.
Er blickte hinunter auf den Schal, lieà ihn gedankenverloren durch die Finger gleiten. âVon der Opiumhöhle bin ich geradewegs zur Pacific Mail Steamship Company gegangen, um meine Rückfahrt nach San Francisco zu buchen. Ich hatte sogar kurz erwogen, gleich ganz dortzubleiben.â
âIn San Francisco?â
âIn den letzten paar Jahren hat sich dort einiges getan. Es wird langsam eine richtige Stadt, wenngleich noch immer etwas von der rauen Aufbruchsstimmung des Westens herrscht, die mir so gut gefällt. Und bei einer Partie Faro hatte ich ein Haus in der Sacramento Street gewonnen â ein ziemlich schönes Haus, etwas gröÃer als meines hier in Boston, und ganz neu erbaut. Ich gewann es von einem Immobilienspekulanten, den der Verlust kaum geschmerzt haben dürfte. Er verdient sich in dieser Stadt eine goldene Nase, das kannst du mir glauben. Eine Weile hatte ich wie gesagt erwogen, ganz dortzubleiben ⦠mich treiben zu lassen, schauen, was sich ergibt. Mich von dieser wachsenden, lebendigen Stadt wie in einen riesigen Kokon einhüllen zu lassen. Vergessen, was vorher war, wer ich einst gewesen war, vergessen, was â¦â Er verstummte und wich Nells Blick aus. âLetztlich bin ich dann doch in den Zug gestiegen.â
âWie lange bist du schon zurück?â, wollte sie wissen.
âSeit gestern Abend.â
Sie wappnete sich bereits für eine Antwort, die sie eigentlich gar nicht hören wollte, als sie fragte: âWirst du ⦠wieder fortgehen oder â¦?â
Er schüttelte den Kopf, blickte zu Boden und vergrub die Hände in den Hosentaschen. âIch weià es nicht, Nell. Ich weià es wirklich nicht. Heute habe ich mit Isaac Foster zu Mittag gegessen, der meinte, ich wäre jederzeit wieder in Harvard willkommen. Er hält die Stelle für mich frei, da es derzeit sonst niemanden gibt, der Gerichtsmedizin lehren könnte. Er hat mir sogar eine ordentliche Professur angeboten, allerdings unter einer Bedingung â ich müsste mich auf fünf Jahre verpflichten.â
âNun ja, das kann man ihm kaum verdenken, oder?â
Mit zerknirschtem Lächeln meinte Will: âGewiss. Er kennt mich einfach zu gut.â Ernüchtert fügte er hinzu: âZudem hat mich noch ein weiteres Angebot erreicht â oder eher eine Bitte. Vom Präsidenten.â
âVom Präsidenten?â Er meinte doch wohl nicht â¦
âAuf dem Briefstapel, der mich zu Hause erwartete, lag ganz zuoberst ein Schreiben aus dem WeiÃen Haus. Präsident Grant hatte es vor einigen Wochen abgeschickt.â
âMoment. Willst du damit sagen, dass er dich kennt? Ich weiÃ, dass er schon viel von dir gehört hat, das wohl, aber â¦â Während des Sezessionskrieges, als Ulysses Grant noch nicht Präsident, sondern
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