Eiskalte Angst
das Tal trieben. Begeisterte Touristen benutzten ihre Kameras und Handys, Kinder tollten im Schnee und mit Kletterwerkzeug ausgerüstete Wandergruppen sammelten sich um ihren Bergführer.
»Hier oben gibt es wunderbare Eisgrotten, in den Gletscher geschlagene Höhlen, in denen Bergsteiger und Eiswanderer übernachten können und selbstverständlich auch ein Hotel«, sagte Marco.
April nickte.
Zwischen Marcos Augen bildete sich eine tiefe Falte. »Du wolltest mich begleiten. Ich bin nach wie vor der Meinung, du solltest dich aus der ganzen Geschichte raushalten.«
»Ich werde dich verlieren ...«, flüsterte April, deren düstere Vorahnungen fast greifbar waren.
Marco schwieg.
April rang sich ein Lächeln ab. »Zeige mir den Weg - ich will diesen Obermacker in den Arsch treten!«
Sie entfernten sich von den Wanderwegen. Marco führte sie durch ein wahres Labyrinth aus Höhlen, Eisspalten und geheimnisvoll glitzernden, von der Natur geschaffenen Eisskulpturen.
»Ist es nicht wunderbar?«, murmelte Marco, verhielt und wies auf eine glatte, im Sonnenlicht blau schimmernde Wand aus Eis, von der Meisterhand der Zeit geformt wie eine gigantische Kirchenorgel.
April drückte sich an Marco und wünschte sich, sie wäre nur eine ganz normale Touristin, die mit ihrem Liebsten einen schönen Tag verbringt. Sie würden sich an den Naturschauspielen begeistern, und abends im Hotel würden sie sich lieben. Sie suchte und fand ein Taschentuch, schnäuzte sich und fragte: »Wie weit ist es noch?«
Es war noch weit. Sie kletterten, rutschten und einmal mussten sie sogar kriechen. Die Sonne stand schon hoch über ihnen, als Marco auf eine kleine Öffnung wies, die sich zwischen zwei Eisblöcken auftat. »Diesen Weg hat noch niemand gefunden. Es vielleicht der einzige Weg auf diesem Gletscher, der von Touristen noch nicht erforscht wurde und falls doch, hat bisher kein Mensch diesen Eingang für wichtig erachtet.«
Sie folgte Marco, der in die Hocke ging und sich durch die schmale Öffnung quetschte. In der Höhle war es stockdunkel und Marco kramte aus seiner Jackentasche eine Taschenlampe, deren Lichtkegel ihnen den Weg wies. Sie tasteten sich gut eine Stunde durch die eisige Dämmerung. April fror erbärmlich. Sie hatte Hunger, sehnte sich nach einem WC und sogar ihre dicke Jacke erwies sich in dieser feuchten Höhle als unzureichend. Einmal stieß sie sich den Kopf und fluchte wie ein Rohrspatz auf amerikanisch.
»Es ist nicht mehr weit«, beruhigte Marco sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Zitternd drückte sie sich an den Mann, den sie zu lieben meinte. Fast unmerklich rückte Marco etwas von ihr weg. Er war ein anständiger Kerl, aber wenigstens für eine Minute - wünschte April sich - könnte er seine Distanz etwas aufgeben. Wie gerne hätte sie ihn geküsst ...
In der Ferne drang Licht in die Höhle und zehn Minuten später presste April ihre Augen zusammen, um nicht auf der Stelle zu erblinden, so gleißend war das Licht, welches vom Schnee reflektierte und ihr mit spitzen Strahlen die Hornhaut zu versengen drohte.
»Wir sind da. Wir sind im Inneren des Bösen«, murmelte Marco.
»Nein ...« April drückte seine Hand und öffnete blinzelnd und vorsichtig ihre Augen. »Es ist auch das Gute.«
»Wie so oft verstehen sich Gut und Böse nicht.«
»Ja – leider ...«, sagte April. »Nur der Himmel weiß, was diese Menschen bewirken könnten. Es gibt so viele Krankheiten, so viel Leid auf dieser Welt.« Sie blickte Marco an. »Gibt es denn keinen anderen Weg? Gibt es nur ein entweder ... oder?«
Marco zog hilflos seine Schultern hoch. Anstatt einer Antwort wies er über den Platz hinweg, der sich vor einer abschüssigen schneebedeckten Wand erstreckte, die so weit in die Höhe führte, dass man den Gipfel nur ahnen konnte. Auf dem Platz hatte man Satellitenschüsseln errichtet, ein Helikopter stand bereit, eine kleine Bühne war aufgebaut worden und vor einem Rednerpult lag ein dunkelblauer Teppich auf dem Schnee. Mitten auf dem Platz stand eine Art Altar.
Marco erklärte: »Dort liegt für gewöhnlich der Kristall und saugt das Sonnenlicht - die Energie auf. Da man den Kristall weggenommen hat, wird das Ritual schon begonnen haben. Sie küren wieder einige zu Oberen!« Seine blauen Augen bohrten sich in Aprils. »Noch kannst du gehen. Falls ich sterbe, wird der Einfluss, unter dem du stehst, beendet sein und du wirst darüber lachen, mich jemals geliebt zu haben. Du wirst bereuen, mir gefolgt zu sein.
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