Eiskalte Angst
Idee.«
20
Der Kristall lag auf einem Podest.
Er strahlte das auf ihn fallende Sonnenlicht mit vielfacher Kraft zurück. Auf seiner glatten Oberfläche funkelte es in allen denkbaren Farben, sodass jeder, der diesen wunderschönen Stein zu lange anschaute, geblendet wegblickte.
Eine magische Aura umgab den Kristall. Er war nicht nur das jahrtausendelange Ergebnis unter Druck entstandener Mineralien - man hätte wetten können, dass er lebte.
Licitus, der die Wachen weggeschickt hatte, legte ehrfürchtig ein dunkles Tuch über den Kristall, hob ihn in seine Handflächen und zuckte unmerklich zusammen, als er die Hitze auf seinen Finger spürte. Hätte er ein lebendes Herz berührt, wäre es ihm nicht anders vorgekommen.
Licitus war unwohl bei diesem Gedanken.
Er dachte unruhig daran, wie man ihn bei Sonnenaufgang zur Leiche der jungen Frau geführt hatte. Der große Dragus hatte genau gewusst, was er mit seinem Urteil anrichten würde.
Er erinnerte sich an die dunklen traurigen Augen derjenigen, die das Tötungsritual begangen hatten, und Schweiß lief ihm über den Rücken und seine Beine zitterten. Das Mädchen war beliebt gewesen, eine gute Jüngerin.
Bisher war jede Zeremonie gleich gewesen. Heute allerdings strömte unter dem dunklen Tuch Energie durch Licitus, wie er es noch nie erlebt hatte. Etwas war anders - war stärker. Die Ausstrahlung des Kristalls war faszinierend und beängstigend zugleich.
Licitus trug den Kristall zur Grotte, in der die Auserwählten warteten. Die Grotte war groß wie ein Flugzeughangar. Ein Wunder der Natur hatte die Höhlung in den Gletscher gefressen und dafür gesorgt, dass sie von draußen unsichtbar war. Hier war es warm und das Eis schwitzte unter den Ausdünstungen der Menschen und der Fackeln.
»Der Kristall ist bereit«, sagte Licitus feierlich.
Der große Dragus thronte auf einem Podest und seine Handbewegung besagte: Stelle ihn vor meine Füße!
Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.
Alle, die zum inneren Zirkel gehörten, waren anwesend. Einige besonders erfolgreiche Jünger waren heute Morgen noch mit dem Hubschrauber eingeflogen worden, hatten sich ihrer Alltagskleidung entledigt und sich die obligatorische Kutte übergestreift.
Wohin Licitus blickte, er sah in erwartungsvolle Gesichter. Darunter auch einige, die man in der Öffentlichkeit kannte. Politiker und Geschäftsleute, sowie ein Schauspieler, der, nachdem er in den 70er Jahren mit Disco-Tanzfilmen erfolgreich gewesen war, vor einigen Jahren ein umjubeltes Comeback gefeiert hatte.
Dieser Schauspieler - der Name war Licitus egal - kniete sich vor den großen Dragus.
»Es wird schmerzen ...«, tönte Dragus.
Der Schauspieler nickte.
»Du weißt, dass du auserwählt bist, den Glauben in die Welt zu tragen?«
Erneut nickte der Schauspieler.
»Dann beuge deinen Kopf und nehme deine Kapuze ab.«
Der Schauspieler entblößte seinen Kopf.
Der große Dragus, vor dessen Füßen der Kristall ruhte, hob seine Handflächen über den Kristall und murmelte beschwörend eine Formel.
Die Zuschauer scharrten unruhig mit den Füßen und atmeten schwer.
Als antworte der Kristall der Stimme seines Meisters, loderte er hell auf. Blaues Licht umzirpelte ihn und hüllte ihn schließlich ganz ein, sodass er nicht mehr als Kristall zu erkennen war. Er strömte eine unglaubliche Hitze aus.
Licitus blinzelte in das Licht. Die Kraft des Kristalls war tatsächlich stärker als sonst, so, als brenne er von innen und warte nur auf den richtigen Moment, um wie eine Bombe zu explodieren.
Dann begannen die Schwingungen. Als habe jemand einen gigantischen aber unhörbaren Basslautsprecher auf volle Lautstärke gedreht, vibrierte der Boden. Die niedrig frequenten Wellen pflanzten sich durch die Grotte fort, hüllten jede Frau und jeden Mann ein und die Kutten der Menschen bewegten sich, als wehe ein Sturm.
Irgendwann, dachte Licitus, werden die Schwingungen das Eis zum Bersten bringen und die Decke der Grotte wird einstürzen. Er verdrängte den düsteren Gedanken. Was war heute los mit ihm? Er hatte in den letzten Tagen wenig geschlafen, aber Schlaf hatte ihm noch nie viel bedeutet. Trotzdem spürte er, dass etwas nicht stimmte.
Nun ergriffen die Schwingungen auch ihn.
Sie schüttelten seinen Körper und seine Haut kribbelte. Seine Zähne schlugen aufeinander und unter der Kapuze richteten sich seine Haare auf. Mit einem hastigen Wisch stülpte er seine Kapuze zurück, wie es vor ihm schon Dragus gemacht
Weitere Kostenlose Bücher