Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
die für Familie Seger zuständig war, hatte sie gebeten zu kommen, war aber selbst abwesend. Levin betrachtete die Leute, die in dem Großraumbüro arbeiteten. Alle saßen konzentriert an ihren Bildschirmen, einige unterhielten sich ab und zu leise. Niemand kümmerte sich um Levin, nur die Frau, an die sie sich von ihrem vorigen Besuch erinnerte, lächelte ihr gelegentlich zu.
Sie erwog aufzubrechen, fand aber, dass es ganz angenehm war, einen Augenblick lang einfach nur dazusitzen und zu warten. Tatenlos. Sie dachte an Johan Seger und fasste die Tasche, die sie auf dem Schoß hatte, unbewusst fester. Das gegen ihn ergangene Urteil wegen Kindesmisshandlung, war nicht schwer zu finden gewesen, nachdem sie sich ans Stadtarchiv gewandt hatte. Jetzt lag eine Kopie davon in ihrer Tasche. Sie wollte es erst lesen, wenn sie zu Hause war.
Was brachte einen jungen, begabten und rücksichtsvollen Mann dazu, sein eigenes Kind fast totzuschlagen?
Der kleine Junge hatte Gabriel geheißen.
Levin musste herausfinden, was mit ihm geschehen war. Er war erst bei Pflegeeltern gewesen, dann hatte ihn jemand adoptiert, aber sie wusste nicht, wer und warum, und hoffte, dass die Analytiker die Antwort gefunden hatten. Trotz ihrer Proteste hatte sie die Anweisung erhalten, Thord Seger erneut aufzusuchen, um weitere Informationslücken zu schließen. Dieses Mal wollte sie jedoch besser vorbereitet sein.
»Hallo. Entschuldigen Sie, dass ich zu spät komme, ich musste rasch noch etwas erledigen«, sagte die Analytikerin, die, wenn sich Pia recht entsann, Lena hieß.
Pia Levin nickte. Die Frau zog einen dicken, leicht verfilzten Pullover aus und hängte ihn über die Lehne ihres Stuhls. Levin stieg der Geruch von frischer Luft und Zigaretten in die Nase; vermutlich war sie gerade zum Rauchen vor der Tür gewesen.
»Sie haben umfangreiche Hintergrundinformationen über die Familie Seger angefordert, nicht wahr?« Lena setzte sich schwer auf den Tisch. »Ich habe da einiges für Sie zusammengestellt.«
»Ich brauche alles, was es über Seger gibt«, sagte Levin. »Was haben Sie herausgefunden?«
Die Analytikerin musterte Levin über den Rand ihrer Brille hinweg. Sie beugte den Kopf vor und zog die Brauen hoch.
»Jetzt muss ich Ihnen aber doch mal sagen, dass …«
Levin riss der Geduldsfaden schneller als sonst.
»Wären Sie so nett, mir einfach die Informationen zu geben? Ich habe auch noch anderes zu tun.«
Die Analytikerin zog die Brauen noch höher und nahm Anlauf. Aber Levin kam ihr zuvor.
»Mir ist klar, dass Sie hier sehr viel zu tun haben, aber mir geht es ebenso. Damit wir uns jetzt also nicht gegenseitig die Zeit stehlen, wäre es gut, wenn ich die angeforderten Unterlagen bekommen könnte. Schließlich handelt es sich um eine gemeinsame Ermittlung, oder?«
»Natürlich. Bitte schön.«
Die Frau schien die Streitaxt begraben zu haben und hielt Pia nonchalant eine dicke Mappe hin, ehe diese sie jedoch ergreifen konnte, ließ sie sie fallen.
Sie knallte zu Boden. Einige Leute sahen zu ihnen herüber.
»So was«, sagte die Analytikerin und lächelte unschuldig.
Levin legte übertrieben langsam die Tasche beiseite, die sie auf dem Schoß gehabt hatte, und hob die Mappe auf. Dann nahm sie wieder ihre Tasche und verließ wortlos den Raum.
Auf dem Weg nach Hause holte sie sich eine Pizza. Als sie sie aufgegessen hatte, ließ sie den schmutzigen Teller und das Besteck unsanft in die Spüle fallen. Sie hatte den salzigen Geschmack des Käses im Mund und den Geruch von billigem, erwärmtem Schinken in der Nase. Die Pizzaschachtel legte sie auf das schmutzige Geschirr, damit sie es nicht sehen musste.
Sie goss sich ein Glas Wein aus dem Karton ein, trank ein paar Schlucke im Stehen, betrachtete das Glas, trank noch einen Schluck und füllte das Glas dann wieder bis zum Rand.
Zwei Mappen warteten auf sie auf dem Tisch vor dem Sofa. Sie griff zur Fernbedienung, und der Raum wurde von leiser Musik erfüllt, die sie mit Bedacht ausgewählt hatte. Dann setzte sie sich aufs Sofa.
Das Urteil oder die Hintergrundinformationen? Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Dokumenten hin und her. Sie wählte das Urteil.
Sie las es langsam einmal und dann noch ein weiteres Mal. Immer dasselbe, immer wieder dieselbe Geschichte. Dass das nie ein Ende nimmt, dachte sie, lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen, um sich diesen Tag auszumalen.
Spätabends kommt ein junges Paar ins Krankenhaus. Ihr Sohn, der erst ein paar Monate
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