EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
verschwunden.
In seiner Bußkammer weinte er fast den ganzen Rest der Nacht. Er weinte, weil er kein Prinz war. Dennoch schwor er sich, sie so lange zu beschützen, bis der Prinz kam und sie erlöste.
***
Als er wieder einmal in Dornröschens Schlafsaal huschte, war er entsetzt. Ihr Bett war leer. Hatte der Prinz sie schon geholt? Er war völlig durcheinander. Sollte er der Oberin Meldung machen, deren Zimmer im ersten Stockwerk am Ende des Gangs lag? Er hastete den Gang hinunter, immer noch unschlüssig, was er tun sollte, als ihn plötzlich ein Geräusch zusammenzucken ließ. Es kam aus dem oberen Stockwerk. Er huschte leise die Treppe hinauf und blieb vor dem Schlafzimmer der Oberin stehen. Zitternd öffnete er die Tür einen Spalt.
Mit einem einzigen Blick registrierte er alles: das offene Fenster, die wehenden Vorhänge, das Bett, das Kerzenlicht und einen nackten Mann, der Maria Luca dabei zuschaute, wie sie mit Peitschenhieben ihren eigenen entblößten Rücken geißelte. Gleichzeitig nahm er einen süßlichen Geruch wahr.
Der Mann trug einen Bart und war von schlanker Gestalt.
„Du bist am Ziel, mein Geliebter, doch mein Leiden beginnt erst“, flüsterte die Oberin erregt. Wieder schlug sie sich. „Du hast die Macht, die Hand nach mir auszustrecken, mich zu besitzen und mir Gewalt anzutun. Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre, mein Geliebter“, wimmerte sie.
Der Mann lächelte. „Hör also auf mit dem Gejammer. Zieh dich ganz aus, oder soll ich es für dich tun?“
Das Wissen, die Oberin in Bann geschlagen zu haben, erregte den Mann zutiefst. Seine Wangen färbten sich rötlich, seine Augen glänzten.
„Der, der dir diese Macht gibt, ist Gott, Jakob“, sagte die Oberin mit vor Erregung zitternder Stimme.
Jakob lachte laut auf. „Die größere Macht ist die Macht der Liebe Gottes, Maria Luca.“
Mit einer Hand fasste er ihren Unterrock, bis der Stoff riss. Jetzt stand die Oberin völlig entblößt vor ihm. Daraufhin nahm er die Gerte und schlug Maria Luca auf den Bauch; dabei lächelte sie ihn an. Er stieß sie mit dem Rücken gegen den Tisch. Eine Kerze fiel zu Boden und erlosch flackernd in ihrem eigenen Wachs. Maria Luca versuchte wieder festen Halt zu bekommen, doch Jakob schlug mit Wucht zu, so dass der Schmerz von ihrem ganzen Körper Besitz ergriff.
An der weißen Wand konnte Lukas verfolgen, wie sich der Schatten des Mannes über Maria Lucas Schenkel schob und ihre Beine spreizte.
„Die Geißelung ist eine Bestrafung, die nach der Schwere der Schuld festgelegt wird. Wenn der Schuldige Schläge verdient hat, soll ihn der Richter hinlegen lassen, und man soll ihm vor dem Richter eine Anzahl Schläge geben nach dem Maß seiner Schuld“, zischte Jakob.
Lukas’ Erstarrung löste sich. Sein erster Impuls trieb ihn zur Flucht. Am liebsten wäre er in sein Baumhaus geflohen, hätte sich zusammengerollt und gewartet, bis der Spuk vorbei war, aber er hatte Angst, sich in der Nacht zu verlaufen. Deshalb flüchtete er sich in seine Bußkammer und rollte sich unter der Bettdecke ein wie ein Embryo im Mutterleib.
***
Am nächsten Morgen machte er sich gleich nach dem Frühstück zu seinem Baumhaus auf, das im westlichen Teil des Waldes lag. Dort stand in der Nähe eine Blockhütte, an die ein Werkzeugschuppen angebaut war, eine Bank, die einen wunderbaren Ausblick bis zum fünfzig Meter weiter entfernt liegenden Weiher bot, an dessen Ufer ein mächtiger alter Baum mit majestätischen Wurzeln stand. Die alte Eiche beherbergte sein Baumhaus. Hier störte ihn keiner.
Hin und wieder traf er auf der Bank dieses blonde Mädchen, das ihm schon öfter Schokolade angeboten und ihm von ihrer kleinen Schwester erzählt hatte. Er nannte sie das Schokoladenmädchen und mochte sie sehr. Und sie schien ihn auch zu mögen, mehr jedenfalls als die anderen. Aber heute war sie nicht da.
Seufzend holte er sein Fernglas aus dem Rucksack und beobachtete die Vögel. Vor allem mochte er den Eisvogel mit seinem atemberaubenden blauen Gefieder, der am Uferanriss des Sees im Wurzelteller eines umgestürzten Baumes eine Erdhöhle gegraben hatte und dort zweimal im Sommer brütete. Manchmal schlich Lukas sich vorsichtig an die Vögel heran und legte ihnen kleine Brassen, die er geangelt hatte, vors Nest. Den Rest erledigte die Natur ganz von allein.
Als er in der Ferne eine Staubwolke aufsteigen sah, richtete er das Fernglas darauf und erfasste einen Geländewagen, der mit
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