EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
innen die Zimmertür, dann drehte sie sich langsam um.
Lukas machte sich auf die Prügel seines Lebens gefasst, doch die Schwester in der grauen Tracht setzte sich hinter den Schreibtisch, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
„Mein Name ist Maria Luca, ich leite das Sanatorium. Wie heißt du?“, fragte sie.
„Äh …“, stammelte er. In seinem Kopf tobte ein einziges Chaos.
„Was soll ich mit dir machen?“, unterbrach sie ihn. „Warum liegst du mit einem Fernglas im Gebüsch und beobachtest die Kinder? Findest du Gefallen daran, kranke Kinder zu betrachten?“
„Äh …“
„Du bist doch der Neffe von Frau Hübner, nicht? Ja, sicher! Sei froh, dass ich dich erwischt habe. Ein anderer hätte sofort deine Tante benachrichtigt. Das würde richtig großen Ärger bedeuten. Willst du das?“
Lukas schüttelte den Kopf. Bei dem Gedanken, sein Verhalten seiner Tante, vielleicht sogar seinem Papa oder seiner Mama im Himmel erklären zu müssen, wurde ihm übel. Bestimmt würden sie ihm dann nicht mehr vom Himmel zuwinken und ihn beschützen, dachte er. Niemals durften sie davon erfahren. Und er könnte in Zukunft auch seine Streifzüge durch den Wald vergessen.
„Für das, was du getan hast, musst du bestraft werden. Das war sehr böse von dir und unüberlegt. Wenn du Abbitte leistest, und zwar in dieser Kammer, werde ich den Vorfall für mich behalten. Es ist ein stiller Ort, ein guter Ort für Gebet und Besinnung.“
„Da-da-danke“, flüsterte er erleichtert.
Sie erhob sich. „Komm her!“, sagte sie barsch.
Widerwillig ging er auf sie zu. Sie bedeutete ihm, sich hinzuknien, und half ein wenig nach, als er sich sträubte.
„Sprich ein Vaterunser und bitte Gott um Vergebung“, forderte sie ihn auf.
Lukas gehorchte und bat Gott stotternd um Vergebung.
„Du könntest Sinnvolleres tun, als die Kinder vom Gebüsch aus zu beobachten. Was hältst du davon, wenn du einmal in der Woche unseren Rasen mähst und die Kinder hin und wieder am Nachmittag besuchst, um mit ihnen zu spielen?“
„We-wenn ich nein sage, sprechen Sie dann mi-mit meiner Ta-ta-tante?“
„So ist es.“
„Das ist Erp-erp-erpressung!“
„Nein, es ist Abbitte! Vielleicht gefällt es dir ja, dich nützlich zu machen.“
„Mal se-se-sehen“, sagte er leise und nickte.
„Dann werde ich mit deiner Tante sprechen.“
Maria Luca streichelte seine Wange. Bei ihrer Berührung zuckte er jetzt nicht mehr zusammen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass sie ihn mochte.
Der Rest des Sommers bestand aus Rasenmähen und der täglichen Buße auf dem kalten Boden eines kargen Zimmers. Obwohl er Dornröschen weiter beobachtete, war er jetzt viel vorsichtiger. Die Oberin sollte ihn nie wieder erwischen.
Zunächst leistete er nur zögerlich die ihm auferlegte Buße. Nach einer Woche empfand er dabei jedoch ein außerordentliches Glücksgefühl. Jeden Dienstag mähte er den Rasen und schielte dabei immer wieder zu Dornröschen hinüber, die es liebte, bei schönem Wetter im Schatten auf der Terrasse zu sitzen und auf den Wald zu schauen. Ob sie wohl auf den Prinzen wartet, der sie erlöst?
Zuweilen blieb Lukas mit Zustimmung seiner Tante auch über Nacht. Dann weckte ihn die Oberin gegen Mitternacht, damit er sie bei gespenstisch flackerndem Kerzenlicht auf ihrem Rundgang über endlos lange Korridore begleitete. Ihm war es recht, dass in der Nacht nur die Notbeleuchtung brannte, denn er liebte das schaurige Kerzenlicht.
Nach dem Rundgang stieg er unbemerkt aus dem Fenster seiner im Erdgeschoss liegenden Bußkammer, um sich von der Dunkelheit verschlucken zu lassen und zur Glastür des neben der Terrasse liegenden Zimmers zu huschen, in dem Dornröschen lag. Sein Herz schlug wild. Dornröschen lag bewegungslos unter ihrer weißen Decke. Er erschrak. Sie ist doch nicht tot, dachte er. Sie wird doch erlöst. Aber wo ist der Prinz?
Nein, er selbst fühlte sich nicht als Prinz. Der Prinz war immer ein strahlender Mann und nicht ein Krüppel. Er würde noch kommen, da war er sicher. Er müsste nur warten.
Lukas schlüpfte durch die offen stehende Glastür und huschte zu Dornröschens Bett. Die Oberin nannte es Anna .
„Hab keine Angst“, sagte er leise.
„Wer bist du?“, fragte Anna erstaunt.
„Ich bin dein Freund.“
„Schön“, flüsterte Anna.
Er lächelte. „Bitte, reich mir deine Hand, bitte“, flehte er sie an, aber plötzlich zog er seine Hand zurück.
Als Anna sich aufrichtete, war Lukas wieder in der Dunkelheit
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