EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
Vaters zu erledigen und keine Zeit für die Verlockungen des Totenreichs.
Er ging um die Grabstelle herum auf einen hohen Ahornbaum zu und befestigte das blaue Seidentuch an einem Zweig, so dass der Wind damit spielen konnte. Genau so wollte Jakob es. Dann verließ er den Friedhof und fuhr mit dem Fahrrad nach Hause.
Am Tag der Beerdigung stellte er das Rad hinter der Friedhofskapelle ab und versteckte sich hinter dem Stamm einer dicken Eiche, wo ihn niemand sah.
Lukas schaute auf seine Armbanduhr. Ihm blieben noch wenige Minuten, bis die Bestatter den Sarg aus der Kapelle trugen, und er zog seine Kamera aus der Jackentasche. Die ersten Trauergäste betraten bereits den Friedhof.
Er ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, die sich um den Sarg versammelt hatten. Mitten unter ihnen erkannte er Jakob.
Wer wurde dort beerdigt, dass Jakob ihn deswegen gebeten hatte, das blutbefleckte blaue Tuch an einem Zweig zu befestigen?
Er blickte durch die Linse und betätigte den Zoom. Am Grab, hinter einem rot-gelb-weißen Blumenmeer aus Callas, Rosen und Astern, entdeckte er plötzlich unter den Trauernden ein blondes Mädchen, das heftig schluchzte und fest die Hand einer alten Dame umklammert hielt.
Lukas fuhr erschrocken zusammen. Das ist Dornröschen, mein Dornröschen aus der Kinderklinik! Sie ist sehr traurig. Vielleicht liegt ihre große Schwester dort im Sarg.
Lukas begann zu zittern. Es musste ihre Schwester sein. Jakob hatte sie manchmal erwähnt. Aber auch er kannte sie. Sie hatte ihm oft Schokolade geschenkt.
Der Schatten, der Schein der Nachtsonne, hatte ihn doch erreicht, und er zitterte vor namenloser Angst. Erst als der Strom der Trauernden versiegt war, fasste er sich ein Herz und lief zu seinem Fahrrad. Fast hätte er es nicht gefunden.
Als er nach Hause radelte, fiel ihm ein, dass er vor Schreck, vergessen hatte, die Kamera auszuschalten.
***
Jakob stand mit versteinerter Miene inmitten der trauernden Gemeinde und beobachtete, wie Anna schluchzend einen kleinen Strauß Schneeglöckchen in Katharinas Grab warf. Kummer und Angst lagen auf den Gesichtern der Menschen.
Warum verzweifelst du, Anna, wenn der Tod doch das Tor zu Freude und Herrlichkeit ist?, dachte er.
Anna presste von Kummer überwältigt die Hände vors Gesicht. Jakob verachtete sie für ihre Unbeherrschtheit. Oder lag es daran, dass die süße Anna ihn an Katharina erinnerte? Merkwürdig, dass ihm diese Ähnlichkeit mit einem Mal so quälend bewusst wurde.
Er blickte auf das Blumenmeer und sprach verächtlich ein letztes Mal in Gedanken ihren Namen aus: Katharina . Vernichtet, niedergetreten. Die ganze Welt ist kalt, Katharina, eiskalt. Ich bin gefasst und werde gleich eine Blume in dein Grab werfen, so wie es die anderen tun, wenn sie an deinem Sarg vorbeischreiten. Durch dein Fehlverhalten müssen diese Menschen jetzt die Last dieser Stunde tragen und gegen die Bilder kämpfen, die in ihnen hochkommen, wenn sie sich daran erinnern, wie du gestorben bist.
Wenig später warf er eine blaue Hyazinthe in die Grabstelle. Dann nahm er die kleine Schaufel und gab ein wenig Erde auf den Sarg.
Als er sich entfernte, blickte er kurz zum Ahornbaum hinüber. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen.
Lukas hatte seine Prüfung bestanden.
***
Katharina lag neben dem Grab von Lil Dagover, aber keiner der Anwesenden sah die Ironie des Schicksals. Ausgerechnet Lil Dagover, die in Die Jagd nach dem Tode und in Der müde Tod gespielt hatte, in dem ein Psychopath im Auftrag eines Mediums junge Frauen ermordete.
Aber Anna hatte die Inschrift des Nachbargrabsteins gar nicht gelesen. Sie schaute zu Katharinas Grab und zu Severin. Sie war gelähmt vor Trauer. Sie wollte nicht hinschauen, sie wollte nicht hinuntersehen, dorthin, wo ihre große Schwester lag, die sie immer beschützt hatte. Was sollte nun aus ihr werden? Wer beschützte sie jetzt außer Mama und ihre Großeltern? Katharina war so stark, war unersetzlich. Wer hatte sie getötet? Warum? Sie alle standen unter Schock.
Ihre Mutter stand neben den Großeltern und Dr. Corelli. Sie trug eine Sonnenbrille. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass man ihre Tränen sah. Hinter Dr. Corelli standen Jörg und Severin, regungslos wie Statuen.
Anna hielt die Hand von Oma Nina fest umklammert. Sie wollte nicht neben ihrer Mutter stehen.
Severin machte einen verstörten Eindruck. Je länger sie ihn anschaute, desto mehr spürte sie, dass ein merkwürdiger Impuls sie erfasste, ein Sog,
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