Eiskalte Verfuehrung
Oberschenkelmitte dunkel vor Nässe war – Nässe, die auch ihr jegliche Körperwärme entziehen würde. Sie mussten sich trocken. Sie mussten sich aufwärmen. Der anstrengende Zweikampf hatte ihn gewärmt, aber jetzt war es ihm umso kälter, und Lolly war noch übler dran, weil sie weder über seine Muskelmasse verfügte noch über seine Erfahrung, wie man mit den Nachwehen eines Adrenalinschubs umging.
Er drehte sie in Richtung Haus, den Arm an ihrem Rücken, und drängte sie weiterzugehen. »Ist dir kalt?«, fragte er, obwohl das eigentlich klar war.
»Mir war kalt«, sagte sie. Sie klang erschöpft. Damit hatte er gerechnet; das war normal. »Irgendwie ist es mir jetzt nicht mehr kalt. Aber ich spüre meine Beine nicht.«
Er erschauderte wieder, sein Körper versuchte, Wärme zu produzieren, und plötzlich fiel ihm auf, dass Lolly nicht vor Kälte zitterte. Das war nicht gut. Eine Weile würde sie noch durchhalten, aber er musste sie schleunigst ins Haus schaffen.
Gabriel ließ Darwins Leiche liegen, wo sie war; die einzige Alternative war, sie mitzuschleppen, aber er wollte seine verbliebene Energie dazu nutzen, Lolly und sich aus diesem verdammten Wald den Berg hinauf ins Haus zu bringen.
Vorsichtig kämpften sie sich zurück zur Straße. Sie mussten sich auf dem von Unkraut bestandenen Seitenstreifen halten, und das bedeutete, dass sie sich unter den gefährlichen, mit einer immer dickeren Eisschicht ummantelten Bäumen befanden, deren Äste bis auf die Straße ragten. Aber eine andere Wahl hatten sie nicht, dies war der schnellste Weg bergauf. Sie mussten sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, von einem herabstürzenden Ast erschlagen zu werden – je weniger Zeit sie sich unter den Bäumen aufhielten, desto besser war es also.
Den Arm noch immer um Lolly gelegt, zwang er sich und sie voran. Sie hatte keine Ahnung, wie nah am Abgrund sie schlitterte, welch eine Mühe ihm das Gehen bereitete. Bis jetzt hatte sie sich wacker geschlagen, aber wer konnte wissen, wann sie an ihrem Tiefpunkt angelangt war? Er glaubte nicht, dass sie aufgeben würde, aber jetzt war der Zeitpunkt nicht günstig, um das herauszufinden.
Gabriel ließ seine Stimme fest und sachlich klingen: »Vorhin, bevor ich zum Haus gekommen bin … hat Darwin dir da etwas angetan?«
Er rechnete mit einem unmittelbaren »Nein«, das er ihr nicht abnehmen würde, oder aber mit einem »Ja«, das in ihm den Wunsch auslösen würde, zu der Leiche zurückzugehen und … Doch Lolly zögerte, bevor sie antwortete: »Er … hat es versucht. Er hätte mich fast …« Ihr versagte die Stimme, und sie stolperte.
Gabriel blieb stehen, ließ sie innehalten und schaltete die Taschenlampe ein, damit er ihren Gesichtsausdruck sehen konnte. Ihr Gesicht war bleich und vor Kälte verkniffen, die Lippen blau angelaufen. Der Poncho war zerrissen, und Eiskristalle hatten sich auch auf ihrem Haar gebildet, auf den Strähnen, die unter ihrer Kopfbedeckung hervorlugten. Aber ihr Blick war jetzt fester.
Er umfasste ihr Gesicht mit der freien Hand. »Er kann dir jetzt nichts mehr tun.«
Als Antwort kam ein Nicken, und trotz der fürchterlichen Umstände ließ ihr Gesichtsausdruck so etwas wie Erleichterung erkennen. »Ja, ich weiß. Du hast diesen Dreckskerl getötet.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie noch hinzu: »Danke. Gute Arbeit.«
Er musste fast lachen. Bestärkt legte er den Arm um sie, und sie stiefelten wieder los. Sie würde schon klarkommen. Lollipop erwies sich als recht zäher Brocken. Er gab ihr wieder Halt, als sie den Berg erklommen, einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen. Er war weiterhin wachsam, hielt Ausschau nach Niki und lauschte, konnte jedoch nichts als den Wind und das Knacken der alten, eisbedeckten Äste vernehmen.
9
Niki rappelte sich auf die Beine. Als dieser Mann wie ein Dämon aus dem Dunkel aufgetaucht und auf Darwin losgegangen war, hatte sich ihr Selbsterhaltungstrieb eingeschaltet, und sie war auf und davon gerannt, als ob der Teufel hinter ihr her wäre, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, Darwin zu Hilfe zu kommen. Sie hatte einen Blick über die Schulter geworfen, anstatt aufzupassen, wo sie hintrat, und war in einer flachen Mulde gelandet. Ihre Beine hatten sofort nachgegeben, und sie stürzte schwer auf den Rücken – so schwer, dass ihr die Luft wegblieb und sie einen Augenblick dalag, zu perplex, um sich zu bewegen.
Als sie schließlich in der Lage war, sich wenigstens
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