EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
du?“
„Anna, dies ist keine Erinnerung. Es ist nicht Bestandteil einer Regression. Heute ist der 15. September 2006.“
Anna hob die Augenbrauen. „Freitag?“
„Ja, du bist seit elf Uhr in meiner Praxis.“
„Eine Sitzung, meinst du?“
„Ja. Kannst du dich nicht mehr erinnern? Du bist ein wenig zu früh gekommen. Biggi hat dir einen Kaffee gemacht. Dann hast du mir deine Befürchtungen mitgeteilt, und ich habe die Hypnose erwähnt, über die du aber nur vage gesprochen hast. Du warst vielmehr daran interessiert, über vorgestern zu sprechen, und das war Mittwoch.“
„Als du zu uns zum Abendessen gekommen bist?“
Über Kreilers Gesicht huschte ein Lächeln. „Ganz recht.“
„Und das war eine Erinnerung. Und heute ist Freitag.“
„Ja, den ganzen Tag lang.“
„Und was war gestern? An Donnerstag kann ich mich gar nicht erinnern.“
„Ja, du hast mir schon oft gesagt, dass dein Gedächtnis dir einen Streich spielt.“
„O nein, ich sagte nur, dass ich mir Zettel machen muss, damit ich nichts vergesse und alles erledige.“
„Aber das ist was anderes, Anna.“
„Wenn heute Freitag ist, dann ist ein ganzer Tag aus meinem Kopf verschwunden.“
„Man ist immer irritiert, wenn das Bewusstsein ein neues Gleichgewicht findet.“
„Na ja, Gleichgewicht? Irritiert ist wohl jeder mal, aber völlig wahnsinnig zu werden ist etwas anderes. Es scheint dich nicht im Geringsten zu stören, dass ich gerade einen ganzen Tag in meinem Leben verloren habe.“
„Ich will verhindern, dass du in deiner Verwirrung auch noch in Panik gerätst.“
„Ich bin verwirrt. Was macht das schon? Alles in meinem Leben ist verwirrend. Das ist das Erste, was man lernt. Regierungen stürzen, Busse kommen zu spät, Menschen lassen einen im Stich, aber das Einzige, was beständig bleibt, das Einzige, worauf ich mich verlassen kann, ist der eigene Verstand.“ Sie sah aus dem Fenster und stockte plötzlich. „Es schneit“, sagte sie erstaunt und schaute ihn an. „Was soll das?“
„Was ist denn jetzt wieder?“, fragte er irritiert.
„Es schneit draußen. Das ist unmöglich.“
„Dann hat sich der Wetterfrosch eben geirrt. Es ist doch mit allen dasselbe: die Busfahrer, die Politiker, die Wetterfrösche.“
„Jetzt hör aber auf. Wir haben September. Was ist hier eigentlich los? Wo ist mein Ehering? Ich nehme ihn niemals ab! Wo ist mein Ehering?“
„Du bist nicht verheiratet. Heute ist der 27. Oktober 1995.“
„Was soll das, Jörg? Was habe ich 1995 in deiner Praxis zu suchen?“
„Du bist nicht wirklich in meiner Praxis, Anna.“
„Also ist das auch nur wieder eine Erinnerung.“
„Ganz recht.“
„Nein! Erkläre mir bitte, was ich vor elf Jahren in deiner Praxis zu suchen hatte. Ich kenne dich doch erst seit …“ Sie stutzte. „Ich hatte dir gesagt, ich möchte zu dem Zeitpunkt zurück, an dem ich dich kennengelernt habe … Jörg, was mache ich jetzt hier?“, rief sie wütend.
„Beruhige dich. Es ist nicht gut für dich, so viele Fragen zu stellen.“
„Nein, weck mich auf, sofort!“, schrie sie.
Er nahm ihre Hand. „Katharina“, flüsterte er leise. „Meine kleine Katharina. Du läufst davon, rennst aus dem Haus, entkommst, und Anna wacht in deinem Haus auf. Es ist dunkel.“
Anna wimmerte. „Nein, was hast du mit mir gemacht?“
„Ach, jetzt ist alles meine Schuld. Ich hatte gehofft, dass ich dir das alles nicht zeigen muss. Aber du lässt mir keine andere Wahl.“
Sie schluchzte. „Was machst du mit mir?“
„Gut festhalten, Anna. Gut festhalten. Es wird eine aufregende Reise.“ Dann versetzte er sie in Trance. „Zwei … zwei … zwei …“ Und dann: „Erzähl es mir. Erzähl mir, was du siehst.“
„Ich nehme den gepackten Koffer und gehe die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Ich schaue auf die Uhr. Drei Uhr. Nur noch fünf Stunden. Erschöpft, aber erleichtert lege ich mich auf die Couch und falle augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Wenig später wache ich mit einem Ruck auf und finde mich in völliger Dunkelheit wieder. Mein Herz hämmert, meine Bluse ist schweißnass. Ich habe ein Geräusch gehört. Das Klirren von Glas, Schritte? War es das, was mich aus meinem Tiefschlaf gerissen hat? Ich wage nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Durch das Fenster fällt das Licht eines vorbeifahrenden Autos. Ich erhebe mich von der Couch. Plötzlich höre ich das Quietschen der Ketten der Verandaschaukel und Geräusche, als würde jemand die Haustür öffnen und
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