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EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)

EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)

Titel: EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Korten
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dachte Maryam. Nicht wirklich. Sie schwelgen schon in Phantasien, sie malen sich schon aus, wie sie mich und die anderen töten werden.
    Nur der Protokollführer, Gefreiter Nüsker, senkte bei der Urteilsverkündung den Kopf, und Maryam fragte sich, ob der junge Mann, der nicht viel älter sein konnte als er selbst, sich wohl schämte.
    In diesem Moment ertönte ein Schrei vom Zuschauerraum her. „Nein! Maryam, nein! O Gott!“
    Sein Blick zuckte über die Reihen bis zu seiner Mutter, die sich an seinen Bruder klammerte und haltlos schluchzte. Er presste die Hände zusammen, obwohl er nichts empfand außer absoluter Leere. Zum Tode verurteilt: Worte, die ihm nichts sagten.
    „Mama, ich habe nichts getan, ich habe nichts getan! Der Richter hat mir mein Leben versprochen. Ich will nicht sterben, Mama“, rief ein Junge neben ihm und streckte verzweifelt die mageren Arme der eigenen Mutter entgegen. Seine Kraft reichte nicht aus, und sein Schrei erstickte.
    Maryam sah ihn an, spürte den Schmerz beim Anblick der frischen Wunden auf seinen Händen, als hätte jemand glühende Zigaretten darauf ausgedrückt.
    Ein Beamter des Wachpersonals griff ein und schleifte den Jungen aus dem Gerichtssaal.
    ***
    In der Nacht schreckte das Wimmern des Häftlings nebenan Maryam immer wieder aus dem Schlaf. Es war Egon Grabosch, der Junge, der in der Verhandlung seine Mutter angefleht hatte.
    Vor einem Monat hatte Egon den Bunker in der Oppenhoffallee verlassen, um im Zentrum der zerstörten Innenstadt bei Pfeifen Jansen in der Adalbertstraße Zigaretten zu holen. Er wurde von einer Wehrmachtsstreife aufgegriffen und ins Haus des Richters geschleppt.
    „Ich wollte meinem Vater nur eine Freude machen“, schluchzte der Junge, „und ihn mit einer Schachtel Zigaretten zum fünfundvierzigsten Geburtstag überraschen.“
    Maryam lauschte dem Lamentieren, aber er merkte sich nur einen einzigen merkwürdigen Satz: Der Richter hat sein Versprechen nicht gehalten .
    Er durfte nicht an die Vollstreckung denken, aber natürlich tat er nichts anderes, wie auch Egon Grabosch in der Zelle neben ihm. Er konnte an sonst nichts denken. Er starrte auf die Uhr, beobachtete, wie die Zeit verging, und fragte sich, wann die Gefängniswärter endlich kommen würden, um ihn und die anderen zum Katschhof zu bringen, wo gegen sechs Uhr das Urteil vollstreckt werden sollte. Er konnte die Uhr oben durch den schmalen Fensterschlitz klar und deutlich erkennen. Sie war alt – mit einem runden Zifferblatt, großen schwarzen Zahlen und einem unaufhörlich vorwärtsrückenden roten Sekundenzeiger, der die Zeit dahinticken ließ: Fünf Stunden lang schon, und noch immer gab es keinen Schlaf für ihn.
    Langsam ging er auf und ab, von der grauen Westwand zur verschlossenen Tür und zurück, ein kurzer Weg, ein paar Schritte nur. Die ersten ein, zwei Stunden waren gar nicht so schlimm gewesen. Die Wärter waren gekommen, hatten ihm und den anderen Mut zugesprochen und waren eine Weile geblieben. In den letzten Stunden konnte man den Verurteilten ein wenig freundlicher entgegentreten.
    Er kaute an den Fingernägeln und beobachtete dabei die Uhr. Mit jeder weiteren Stunde wurde es schlimmer. Worüber denken andere Menschen nach, fragte er sich, während sie auf den Tod warten?
    Zwei Wachen, die er noch nicht kannte, gingen schnell an seiner verschlossenen Tür vorbei. Sie schauten durchs Sichtfenster, wollten einen Blick auf ihn erhaschen. Er spürte die heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hing, schmerzhaft wie stechende Dornen. Die Wachen warteten genauso auf die Vollstreckung des Urteils wie er. Alle wollten es hinter sich haben. Er legte beide Hände an die Wand und fühlte die kühle Betonstruktur. Zu Mittag hatte er einen Apfel gegessen, das Einzige, was er hatte zu sich nehmen können. Der süße Saft war ihm übers Kinn gelaufen, und er hatte ihn nicht abgewischt. Stattdessen hatte er sich an die Zellenwand gelehnt, die Augen geschlossen und den Apfel verschlungen, als hätte er noch nie zuvor einen gegessen.
    Maryam dachte über glücklichere Zeiten nach, Zeiten, in denen er verliebt war, wirklich verliebt. Er hatte Ludmilla im Gerichtssaal gesehen, mit dem Baby im Arm.
    Er malte sich aus, wie er mit ihr eine Bergwanderung machte und sie wegen eines Gewitters in der Hütte Schutz suchten. Jene Hütte, wo vor einem Jahr in einer leidenschaftlichen Umarmung das Kind gezeugt worden war. Damals hatte der Geruch von Humus und Baumrinde in der Luft

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