EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
ja?“
„Am Anfang haben meine Eltern gar nichts gehabt. Und wissen Sie, was sie dann gemacht haben? Sie haben ein bisschen was zur Seite gelegt. Jede Woche. Und als sie dann Hochzeitstag hatten, dann haben sie sich ein kleines Häuschen in Mülheim gemietet, direkt an der Ruhr.“ Er lächelte verlegen.
Anna fühlte sich plötzlich wohl in seiner Nähe. „Ach ja?“
„Das w-war ein schönes Haus. Und als ich jünger war, d-d-d-da bin ich immer einmal im Jahr hingefahren, und … u-und da … da gibt es riesige Frösche und K-k-krokodile.“
„Wirklich?“
„Es würde Ihnen bestimmt dort gefallen.“
Sie lächelte und dachte daran, was wohl Katharinas Freund Basti zu Krokodilen in der Ruhr sagen würde. „Das glaube ich auch, Lukas. Könntest du jetzt meine Hand loslassen?“
Er wackelte mit dem Kopf. „Entsch-schuldigung. Es würde Ihnen dort gefallen“, wiederholte er.
„Bestimmt, Lukas. Bestimmt.“
„Ja …“ Er grinste und sah dabei lächerlich aus.
Anna kramte in ihrer Tasche. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie reichte ihm eine Tafel Schokolade. „Die magst du doch, oder?“
Mit großen feuchten Augen schaute er zuerst auf die Schokolade und dann auf sie. „Ja, ja.“
Dann sah sie, wie dicke Tränen über seine mageren Wangen rollten, und war gerührt. „Also, ich hole jetzt den Tee, und dazu naschen wir die Schokolade. Okay?“
Lukas wackelte mit dem Kopf, was Anna als Nicken auffasste.
„Bis gleich.“
„Bis gleich“, sagte Lukas. Er schaute ihr nach und flüsterte: „Hm … mein Schokoladenmädchen.“
Als sie mit zwei Bechern zurückkam, strahlte er übers ganze Gesicht. „Ich habe Sie beschützt, Anna. Ich werde Sie immer be-beschützen.“
Ihr war plötzlich seltsam zumute, aber sie sagte: „Ich weiß, Lukas. Ich weiß.“
***
Moskau
Als Pawel Kubanek zurück nach Moskau in den Schoß einer russischen Hure fuhr, wurde er von einer Wut übermannt, die stärker war als alles, was er zuvor erlebt hatte.
Der Mord an Kreiler und die Tatsache, dass er seinen Großvater gefunden hatte, hatte die schmerzliche Leere seiner eigenen Existenz gefüllt. Er hatte sein wahres Ich gefunden. Aber eines stand noch aus …
Er dachte oft an sie. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf, und wenn er an sie dachte, hatte er ihr leuchtendes, feurig loderndes, tizianrotes Haar vor Augen, das sich in wilden Locken über ihre Schultern ergoss. Er würde ihr schreiben, denn vorerst konnte er nicht nach Deutschland zurückkehren. Man könnte ihm auf die Schliche kommen, wenn sie seinen Großvater durch die Aktenschnipsel, die er an den Tatorten hinterlassen hatte, aufspüren würden. Die Recherchen würden die Ermittler vielleicht auch zum Enkel führen. Aber irgendwann musste er zurückkehren, um sie zu töten. Er bedauerte, dass er nicht schon längst in ihr abgetaucht war.
Hier in Moskau würde er die Antwort auf die Frage finden, wann er Mathildas kirschrote Lippen kosten sollte. Vielleicht würde er sie dann auch wie die selbstgefällige Taube auf dem Terrassengeländer mit harten Tritten bearbeiten. Oder er würde mit einem Eispickel auf sie einhacken. Immer wenn er an sie dachte – und das war oft –, schwappten die Gefühle über wie die Wellen einer Brandung.
Mathilda … Ihre Schönheit berührte ihn auf magische Weise, sie weckte in ihm, was grausam war, denn aus der Begegnung mit Schönheit und Musik erwuchs seine eigene schöpferische Kraft.
In der Stille seiner Penthousewohnung in Moskau würde er das Geheimnis ihrer Schönheit entdecken und ihr Raum geben, sich zu entfalten.
Winter. Es soll Schnee geben, leere Straßen.
Ja, das würde er ihr schreiben. Er schaltete die Stereoanlage an und lauschte den Klängen der Winterreise .
Epilog
Aachen – zwei Monate später
Maryam Krasinski ging langsam über das Kopfsteinpflaster der alten, zum Katschhof führenden Büchel-Gasse. Seine morschen Knochen erlaubten ihm keine längeren Spaziergänge mehr.
Die in der Nähe des Katschhofs gelegenen älteren Viertel hatten sich überhaupt nicht verändert. Ihre langen, schattigen Straßen waren heute noch genau so ordentlich wie am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Selbstbewusste Bürgerhäuser verliehen dem feudalen Viertel ein ganz besonderes Flair, und wie schon damals war es auch heute ein ungeschriebenes Gesetz, dass am Sonntag nicht viel auf dem Programm stand. Man ging in die Kirche, besuchte Nachbarn, ruhte und entspannte sich auf gottgefällige Weise.
In der gesamten Aachener
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