EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
anklagen und verfluchen würde? Er konnte erst aufatmen und den kommenden Tag stark und rein beginnen, wenn der Schwan in seinem Grab lag.
Am Seeufer bemerkte er im Schein einer brennenden Fackel eine ausgebreitete Plane, auf der ein Spaten und zwei Wolldecken lagen. Auf einem Steinhaufen daneben lag eine karminrote Rose. Calum! Sein Zwillingsbruder überließ nichts dem Zufall. Gordon legte den toten Schwan auf die Plane und betrachtete ihn still. Bei seinem Anblick wurde ihm kalt und heiß, sein Gaumen wurde trocken, und seine Kehle war wie zugeschnürt.
Das Mondlicht hing blass und geisterhaft über ihm. Der böige Märzwind wirbelte die feinen Sandkörner des Seeufers durch die Luft und ließ tote Zweige rascheln. Gordons langes braunes Haar wurde vom Wind gepeitscht, und seine weite weiße Hose flatterte wie ein Segel um seine Beine. Er legte eine Decke über das Tier. Zähneklappernd warf er sich die andere über die Schultern und sah sich um, bis er die Stelle entdeckte, nah am Wasser.
Er warf die Decke ab und griff nach dem Spaten. Vom knirschenden Klirren des ersten Stoßes ins Erdreich wurde ihm fast schwindlig. Er spürte die harten Muskeln seiner Arme, seine Füße in den Stiefeln, sah auf seine schlanken Hände, zwängte seine Kraft in ein Geschirr wachgerufener Bewegungen – einstechen, nachtreten, heben und schwingen, einstechen, nachtreten, heben und schwingen. So hatte es ihm sein Vater beigebracht. Schließlich verfiel er in einen von jeglichem Denken losgelösten Rhythmus, einen vertrauten Takt, der ihn aber nicht beruhigte.
Er weinte, als er den Körper des Tieres in das ausgehobene Loch bettete. Als das Grab zur Hälfte gefüllt war, gab er Steine hinein, um Aasfresser abzuhalten, schaufelte ein wenig Erde darüber und schichtete dann weitere Steine zu einem runden Hügel auf.
„Wer weiß denn, ob das Leben nicht Totsein ist und Totsein Leben?“, flüsterte er, legte die Rose auf das Grab und beschwerte den langen Stiel mit einem Stein.
Bildete er sich nur ein, dass sich der Himmel plötzlich in Schleier hüllte und violett färbte? Das Blut rauschte in seinen Ohren, ihm wurde übel. Die Sterne am Himmel begannen sich zu drehen, zunächst langsam, dann schneller und schneller, bis ihn eine tiefe Schwärze erfasste.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken. Er öffnete die Augen. Der Mond schien heller, Wolken eilten an seinem Licht vorbei, der Himmel wurde sternenklar. Hoch über ihm zog eine Möwe ihre Kreise, als habe sie das Spiel des Todes mit Interesse verfolgt. Er stand benommen auf, ging zum Ufer des Loch Meadhonach und klatschte sich Wasser ins Gesicht. Danach warf er eine kleine blaue Pille ein, die ihm eine farbenfrohe Nacht bescheren sollte – ohne alptraumhafte Visionen von toten Schwänen.
Plötzlich zuckte er am Seeufer zusammen . Nein!, dachte er. Das kann nicht sein . Er rieb sich die Augen, schaute noch einmal hin und stolperte. Er glaubte plötzlich vor einem Abgrund zu stehen, wo sich feine Risse auftaten, Risse, die sich allmählich zu größeren Klüften verbreiterten, um sich dann zu vereinigen zu einem gähnenden schwarzen Loch, das ihn verschlucken wollte. Das Mondlicht schimmerte in dem klaren kalten Wasser und drang bis auf den Boden des Loch Meadhonach.
Tief unten im Wasser lag die Leiche einer jungen Frau. Ihr vor Kälte erstarrter Körper schimmerte in gespenstischer Blässe, und das Wasser spielte mit ihrem langen braunen Haar. Die Erinnerung an ein Mädchen blitzte auf, die Verabredung vor ein paar Tagen, die sie nicht eingehalten hatte …
„Darf ich dich mal stören?“, fragte eine weibliche Stimme.
Gordon blickte auf. Vor ihm stand eine junge Frau, die ihn schelmisch musterte.
„Du störst mich bereits“, antwortete er.
„Ich stecke gerade in einem kleinen Chemieexperiment und wollte fragen, ob du mir kurz dabei hilfst.“
Er runzelte die Stirn. „Du verarscht mich, oder?“
„Ich kann mit einem Blick erkennen, dass du sehr gut in Chemie sein musst.“
„Mag sein, aber das hier ist eine Bibliothek und kein Labor“, entgegnete er genervt. Er wollte sie loswerden, aber sie ließ nicht locker.
„Ich habe in letzter Zeit nur Idioten gefragt und bin daher voreingenommen, aber von dir habe ich nur Gutes gehört. Ich nehme deine biochemische Aura deutlich wahr.“
Gordon grinste. „Und wen fragst du sonst noch?“
Sie schaute sich in der Bibliothek um. „Ich weiß nicht. Hier erfüllt sonst keiner die Kriterien: attraktiv,
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