EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
alles nicht mehr, nicht das Valium, nicht das Lexotanil, nicht das Aspirin und nicht das Trevilor. Diese Pillen umnebelten nur ihr Hirn. Ihre Seele schützte sich durch das Vergessen jener grauenvollen Tage, die sie in der Gewalt eines Psychopathen verbracht hatte. Sie fühlte sich heute Morgen klar und frisch wie ein sprudelnder Wasserfall. Wozu also all diese Pillen?
Den traumatischen Erlebnissen war eine Zeit des Glücks gefolgt, das Glück, das ihr die Geburt ihrer Tochter schenkte, und eine Zeit der Zärtlichkeit, in der die Angst sich verflüchtigte. Auch das Studium an der Kunstakademie hatte ihr viel Freude bereitet, besonders seit sie nach ihrem Abschluss jeden Dienstag Zweitklässler unterrichtete. Außerdem war sie bereit für ein zweites Kind. Sie war richtig eifersüchtig auf den Babybauch ihrer Freundin Mathilda, die in wenigen Wochen Zwillinge zur Welt bringen würde. Aber die Pillen würden kein heranwachsendes Wesen in ihrem Körper zulassen.
Anna seufzte. Warum hatte sie neuerdings dieses seltsame Gefühl, ihr Leben könnte entgleisen? Vielleicht, weil sie die Medikamente ohne Jörgs Zustimmung allmählich abgesetzt hatte. Ob ihr Körper und ihr Geist den Entzug nicht verkrafteten? Die Zwerge in der Schule hatten eine Antenne für ihre Stimmungsschwankungen. Die Kinder schauten sie hin und wieder mit seltsamen Augen an, besonders dann, wenn sie ihrer Lehrerin eine Frage stellten und keine Antwort bekamen. Es gab Momente, da hörte sie das Kinderlachen, die niedlichen Stimmen, aber sie hörte nicht, was die Kleinen sagten, sondern nur das Sausen in ihren Ohren.
Sie durfte die Vergangenheit nicht an sich herankommen lassen, und insbesondere durfte sie Max nicht mit ihren Hirngespinsten belasten – ihren Mann mit dem energischen, scharf geschnittenen Gesicht, den intelligenten dunkelbraunen Augen; Max, der Geist und Körper immer unter Kontrolle hatte. Er hatte genug um die Ohren, sie durfte ihn nicht belasten. Nach dem Tod seiner Eltern, die vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte er die Leitung des Mailänder Pharmakonzerns Biocell übernommen und ihr zuliebe die Verwaltung nach München verlegt. Die Produktionsstätte der gentechnologisch hergestellten Pharmaka befand sich nach wie vor in Mailand, doch Max spielte mit dem Gedanken, sie nach Polen zu verlegen.
Schade, dass Max und Jörg sich nicht so gut verstanden. Jörg war nur selten Gast im Haus, denn Max mochte ihn nicht besonders.
Sie lächelte. Vielleicht war ihr Ehemann eifersüchtig auf diesen attraktiven Arzt, der damals ihrer Schwester Katharina den Kopf verdreht hatte. Aber Jörg hatte ihr geholfen, vielleicht auch deshalb, weil er mit ihrer Schwester befreundet gewesen war, bevor sie ums Leben kam. Oder vielleicht, weil sie ihn an Katharina erinnerte.
Jörg Kreiler war ihr Psychiater, ihr Anker und ihr Freund. Er brachte sie dazu, sich wirklich gut zu fühlen und sich den Dämonen ihrer Träume zu stellen, die ihr ständig auflauerten; mit seiner Hilfe würde sie sie vertreiben, und ab sofort auch ohne Psychopharmaka. Heute würde sie nicht den Wagen nehmen, ihr war nach S-Bahn zumute.
Als sie den Eingangsschacht der S-Bahn-Station hinunterging, wehte ihr von der Treppe ein Geruch verborgener Orte entgegen, modriger Untergrundstaub, den die Dunkelheit verströmte und der sie an den Raum erinnerte, in dem Jakob sie vor Jahren eingeschlossen hatte. Nur allzu gut erinnerte sie sich an den unheilvollen Klang seiner Stimme. Ihr Körper nahm immer wieder feinste Anpassungen vor, glich jede Veränderung ihres Geistes in Geschwindigkeit und Richtung aus, wenn Erinnerungen wie Blitze aufzuckten. Und wenn sich ihr Gehirn aus Jakobs frostiger Umklammerung befreite, gab es jedes Mal einen Moment, in dem ihr Kopf sich absolut rein anfühlte. Das war den Schmerz der Erinnerung wert – dieses Gefühl, diese süße, verschwommene Erlösung.
Einmal hatte sie Mathilda gefragt, ob sie dieses Gefühl kenne, ob sie wisse, was sie meine, aber die Freundin hatte ihr nur einen eigenartigen, besorgten Blick geschenkt und sich später sogar über ihre Frage lustig gemacht.
Nicht so Jörg Kreiler. Der verstand sie vollkommen.
***
Jörg Kreilers von einem kleinen Eichenbestand abgeschirmte Villa, in der die privaten Praxisräume untergebracht waren, befand sich am oberen Ende der Rudliebstraße.
Als Kreiler die Klingel hörte, fuhr er auf. Anna!
Er holte tief Luft und atmete aus, dann ging er zur Sprechanlage. Er wusste,
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