EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
gelegen. Sie habe eine so unbekümmerte Art, ihr Gang sei so leicht und schwungvoll wie der eines jungen Mädchens auf dem Weg zu einem heimlichen Abenteuer; jeder könne ihr ansehen, dass an diesem Tag nichts Schlimmes geschehen werde, hatte er ihr gesagt. Unbekümmert, leicht und schwungvoll – Worte, die ihm nur selten in den Sinn kamen. Er würde sie und sein Baby niemals wiedersehen.
Er schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Seine Fäuste gruben sich in seine Beine. Jetzt, in diesem Augenblick, wollte er an Gott glauben.
„Rette mich, Gott“, betete er. „Bewahre mich vor diesem Tod.“
Doch das Einzige, was ihm die Stille der Nacht gab, war eine Beklommenheit, die seine Brust aushöhlte. Vielleicht genau das, was ich verdiene, dachte er.
Durch das schmale Fenster sah er auf die Uhr. Eine weitere Stunde war vergangen. Er wollte schreien. Über sein Schicksal, sein Leben und das Leben der anderen hatten fünf Männer in fünf Minuten entschieden. Ihr Urteil: Tod durch ein Exekutionskommando.
Obwohl er erst achtzehn Jahre alt war, hatte er doch im Laufe der Jahre gelernt, dass sich Gerechtigkeit in diesen Zeiten nicht durchsetzen konnte. Er legte seine Stirn an die Wand um der Kühlung willen; die kalten Steine wirkten besänftigend und brachten seinem Gesicht, das wieder einmal zerschunden war, ein wenig Erleichterung.
Die Wände knackten lauter als sonst, die Lüftungsschlitze und Leitungsschächte schienen aktiver zu sein, Dinge bewegten sich, trudelnd und sinkend wie Plankton in einem Teich.
Draußen entfernten sich Schritte. Er hörte das Knirschen des Kieses, das Quietschen des Flügeltors. Dann war alles wieder ruhig.
***
Am Sonntag, dem 15. Oktober 1944, wurde der bewusstlose Maryam Krasinski von zwei Beamten der Justizvollzugsanstalt Aachen auf einer Pritsche aus seiner Zelle getragen und in den Keller der Villa in der Ludwigsallee gebracht. Niemand sah etwas, niemand hörte etwas, auch der vierzehnjährige Egon Grabosch nicht.
Am Nachmittag erwachte Maryam Krasinski in Kollmanns Keller aus einem seltsamen Traum. Er erinnerte sich schwach an die Injektionsnadel, die seine Haut kurz vor Sonnenaufgang durchbohrt hatte, und an zwei Gestalten in Uniform, die ihn auf einer Bahre hierhergebracht hatten.
Er lag auf einem alten Bett, Arme und Beine waren an den Stahlrahmen gefesselt. Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Er öffnete die Augen. Auf dem Bett saß Kriegsgerichtsrat Kollmann. Er trug einen schwarzen Morgenmantel mit wappenartigen Emblemen. Maryam spürte sein Gewicht auf der Matratze, seine Hitze und seine wulstigen Finger, die ihn berührten, und er wusste nicht, ob er wach war oder noch träumte, und setzte zu einem Schrei an.
Kollmann hielt ihm den Mund zu und lächelte. „Schhh ...“
Maryam wand sich, seine Augen starrten den Mann im Morgenmantel an, bis er sicher war, dass Kollmann ihm nichts tun würde. Noch nicht. Er nickte.
Kollmann nahm die Hand von seinem Mund. „Du bist süß“, flüsterte er.
Maryam warf einen Blick auf die anderen Männer, die nacheinander den Kellerraum betraten. Sie tranken Whisky aus Flaschen und versammelten sich um das Bett. Er erkannte die Besetzung des Tribunals: Anton Kemper, ein untersetzter Mann mit blauen Hosenträgern auf nackter Haut; Karl Nüsker, hager und steif, mit dunklen Augen unter buschigen Brauen, die ihn seltsam ansahen; Edgar Wilhelms, hohe, gerundete Stirn, perfekt geformte Nase, kantiges Kinn, ironisches Lächeln; Dr. Rüdiger Specke, blondes, immer perfekt gekämmtes Haar, das die dunkelbraunen Augen hervorhob, die wie Steine in einem Flussbett glänzten.
„Seht mal, wie süß er ist! Er ist ein rebellischer Junge. Wir werden viel Spaß mit ihm haben“, sagte Kollmann heiser und lachte laut auf. „Keine Sorge. Er wird alles mitmachen, schließlich hängt sein Leben davon ab.“
Maryam erfasste das Ungeheuer in Kollmanns Augen, wie schon zwei Tage zuvor bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Er zitterte, aber nicht aus Angst. Er sah, wie Kollmann sich zu ihm herabbeugte. Der Richter küsste seine Lippen und kostete den Geschmack seines Mundes. Hinter seinem Bein blitzte etwas auf, das Maryam nicht richtig erkennen konnte. Eine Zange? Ein Messer?
Kollmann sagte etwas, so leise, dass er ihn kaum hörte. Maryam spürte erneut eine Welle der Müdigkeit herandonnern, spürte, wie sein Körper von einer Strömung weggerissen wurde, weit hinaus aufs offene Meer.
Finger berührten den
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