EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
oberen Rand des Lakens und hoben es an. Es roch nach Seife. Kriegsgerichtsrat Kollmann streckte ihm aus der Nacht seine Arme entgegen wie ein Ertrinkender aus dem dunklen Meer und verkündete ein zweites Mal das Urteil. Die Beisitzer Hauptmann Kemper, Gefreiter Wilhelms und der Vertreter der Anklage, Oberkriegsgerichtsrat Dr. Specke, legten ihre Kleidung ab. Maryams Rücken straffte sich, er sah nur ihre bleiche, schlaffe Haut. Dann hörte er im Hintergrund ein Geräusch. Eine Kamera lief, und er erkannte den Mann, der sie bediente.
Maryam wusste auf einmal: Er hatte die Wahl. Der Junge in der Zelle, Grabosch, hatte es herausgeschrien. Er nickte und verdrängte die aufkommenden Tränen.
***
Kurz vor Morgengrauen, am Montag, dem 16. Oktober 1944, verließ Maryam Krasinski das Haus in der Ludwigsallee 25 als freier Mann.
Freiheit!, dachte er verächtlich. Was war das schon? Er würde nie wieder frei sein. Freiheit für ihre Taten, Freiheit für ein Versprechen, das sie ihm abgenommen hatten, Freiheit für sein Stillschweigen, für eine Stunde Vorsprung, bis sie die Gestapo auf ihn hetzten, wie es Egon Grabosch widerfahren war.
Im Zeitraffer fluteten die Bilder vorbei: Gummihandschuhe, Handschellen, mit denen er ans Bett gefesselt wurde, der Knebel, um ihn am Schreien zu hindern, ein blutgetränktes Laken. Moosbewachsene, schimmelige Wände – die Männer, ihre Schweißabsonderungen, ihr Urin, ihr Kot, ihr Sperma und Blut, überall Blut, sein Blut.
Er zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, und starrte zum blassen Mond hinauf. Dann schloss er die Augen und glaubte den Chorgesang im Aachener Dom zu hören. Seine Melodie hatte diese steinerne Welt, die unter den Wogen der Kriegszeit lebte, niemals verlassen. Der Himmel war seltsam klar. Alles ist in Ordnung. Das Leben geht weiter.
Maryam Krasinski dachte an den Gefreiten Nüsker, einen jungen Mann in seinem Alter, der in der vergangenen Nacht die Filmkamera bedient hatte, während das Kriegstribunal seine perversen Neigungen ausgelebt und ihn gedemütigt, geschändet und misshandelt hatte. Und jetzt irrte er mit pochendem Schädel in der Morgendämmerung durch die Straßen von Aachen.
Am Katschhof sah er, wie drei Jungen mit verbundenen Augen an die Wand gestellt wurden. Er erkannte in einem von ihnen Egon Grabosch wieder. Ein Wehrmachtsexekutionskommando machte sich bereit. Jemand gab den Befehl: „Feuer.“ Die Jungen fielen zu Boden, aber Egon stand wieder auf, anscheinend war er nur von einem Streifschuss getroffen worden. Er lief noch wenige Meter, dann kam ein junger Offizier und gab ihm den „Gnadenschuss“.
Er sah, wie zwei Geistliche die toten Körper in Decken hüllten und fortbrachten. Dann ging auch er.
Maryam Krasinski verspürte das Verlangen nach Rache. Er spürte Rastlosigkeit, die ihn niemals wieder zur Ruhe kommen lassen würde. Diese Nacht würde ihn unerbittlich verfolgen, und es gab für ihn keinen Zufluchtsort, an dem die Spuren seiner Qual verwischen würden. Sie würden ewig in sein Herz gegraben sein.
Er irrte durch die Stadt, bis er zwischen den Ruinen am Adalbertsteinweg erschöpft zusammenbrach.
Kapitel 1
München, 28. September 2006
Seit sechs Jahren litt sie nun schon unter diesen Gedächtnisstörungen, ein Zustand, dessen sich Anna Gavaldo immer dann bewusst wurde, wenn sie mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert wurde. Die Schatten kamen neuerdings in der Nacht vor einer Therapiesitzung und hatten immer die unscharfe Kontur jenes Mannes, der sie vor sechs Jahren in einem Kellerraum eingesperrt hatte. Aber sie erkannte ihn nicht und hatte keine Erinnerung an das Geschehen in diesem dunklen Raum.
„Retrograde Amnesie“ nannte ihr Psychotherapeut dieses Krankheitsbild. Prof. Jörg Kreiler war nicht nur eine Kapazität auf dem Gebiet der Neurochirurgie, sondern genoss auch einen ebenso hervorragenden Ruf als Psychiater, und nicht zuletzt war er ihr Freund und besaß seit vielen Jahren Annas Vertrauen.
Heute drängten sich ihr die Schatten förmlich auf. Donnerstag, der 28. September 2006. Jörg – so stand es im Terminkalender: ein Schattentag.
Am Morgen war sie schon um halb sieben aufgestanden, hatte den Küchenschrank aufgeräumt und das Frühstück gemacht. Und nachdem Max mit ihrer sechsjährigen Tochter Katharina das Haus verlassen hatte, hatte sie im Badezimmer mit einem Schwung den Inhalt des Medikamentenschränkchens in den Abfalleimer gefegt und danach den Spiegel geputzt und gedacht: Ich brauche das
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