EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
er jedoch ebenso ausgeliefert wie der beginnenden Verwesung.
Auf dem Bett lagen ein Teller mit verkrusteten und unappetitlichen Spaghettiresten und ein umgekipptes Weinglas. Der Fußboden war klebrig, und er wusste, dass die Analyse der Substanzen seine Vermutung bestätigen würde: Blut, Urin und Kot.
Neumann zeigte mit dem Kinn auf die Wand, auf der merkwürdige Wörter eine Zeichnung aus einem Kinderbuch umsäumten. Jemand hatte offensichtlich eine Botschaft auf Polnisch hinterlassen.
Lustereczko, lustereczko, powiedz przecie, kto jest najpi ę kniejszy w ś wiecie?
„Also, was bedeutet das? Sag schon, damit wir hier verschwinden können“, meinte van Cleef gereizt.
„Dank der hervorragenden Sprachkenntnisse deiner Freundin, die hier vorhin in der Scheiße herumgewühlt hat, kann ich’s dir sagen. Spieglein, Spieglein an der Wand. Wer ist der Schönste im ganzen Land? “
Ein seltsamer Moschusgeruch legte sich wie ein feuchtes Tuch auf van Cleefs Gesicht. Er musste hier raus. Zum ersten Mal wurde er blass.
Hinter ihm hörte er Neumann sagen: „Hey, Boss, geht es dir nicht gut? Dass ich das auch mal erleben darf. Ich glaub es nicht!“
„Halt den Mund, Neumann, sonst begleitest du mich morgen in die Pathologie. Und lass die Handschrift von einem Sachverständigen überprüfen!“ Er warf seinem Kollegen einen wütenden Blick zu.
Neumann grinste. „Schon gut, Boss.“
Kapitel 26
München
Das Hinweisschild Pathologie der Universitätsklinik München schien van Cleef aus dem Nichts entgegenzuspringen. Er trocknete sich das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab und eilte durch den Vorraum, wo die Leichen bis zu Bestattung oder Obduktion hinter verschlossenen Stahlfächern in der Kältekammer auf Rollbahren zwischengelagert wurden. An den Fächern steckten farbige Etiketten in Metallschlitzen – rosa Schlitze für weibliche, blaue für männliche Leichen. Er betrat den Obduktionsraum, wo winterliche Temperaturen herrschten. Die Wände waren wie ein altmodisches Schwimmbecken mit hellgrünen Fliesen gekachelt, und in der Luft hing ein undefinierbarer Blutgeruch wie in einer Metzgerei. Unter den Tischen lagen Schläuche, aus denen Wasser auf den gefliesten Boden strömte.
Die Leichen der beiden Männer lagen eingewickelt in weiße Plastikplanen auf einem Tisch in der Mitte des gekachelten Raumes. Auf einem kleinen Tisch daneben lag der Kopf von Andrej Heptna. Niemand blickte auf, als er in der Tür erschien.
O Gott, dachte er, das wird eine verdammt harte Veranstaltung werden. Es war das Knirschen der Knochensäge, das ihn regelmäßig erschauern ließ. Und der Geruch. Und der war heute besonders übel. Neben dem Obduktionstisch standen fünf Studenten, zu denen er sich jetzt gesellte.
Veronika Granel begrüßte sie alle mit einem kurzen Nicken.
„Nun, ich denke, wir sollten mal kurz in die Vergangenheit schauen, um das, was wir hier sehen, besser verstehen zu können“, begann sie. „Noch vor zweihundert Jahren hat es niemanden gestört, Fäkalien in die Flüsse zu leiten und gleichzeitig aus ihnen Trinkwasser zu gewinnen. Fäkaliengruben wurden manchmal jahrzehntelang nicht geleert. Früher dienten die Straßen als Abwasserrinnen für Kot und Urin. Heute bewegen sich die Abwässer unterirdisch. Der Hygieniker Max von Pettenkofer sorgte im neunzehnten Jahrhundert dafür, dass die Münchner Kanalisation mit dem damals besten Portlandzement aus England gebaut wurde. Heute bestehen die Kanalisationssysteme aus unterschiedlichen Materialien. Die dickeren Rohre unter der Straße sind entweder aus Gusseisen oder aus keramischem Material, und die großen Sammelkanäle baut man heute meistens aus Beton oder Stahlbeton.“
Veronika brachte sich vor dem Tisch in Position und zog die Plastikabdeckung von Andrej Heptna. Die Umstehenden zuckten sichtlich zusammen, und drei wandten sich zum Luftholen ab.
Der Körper verströmte einen widerlichen Geruch, als wäre er gerade der Kloake entstiegen.
Veronika räusperte sich und fragte van Cleef, ob es sich bei dem Mann um denselben handelte, den man in der Kanalisation entdeckt hatte.
Van Cleef nickte.
Damit waren die Formalitäten erledigt.
„Vor mir liegt der Körper eines mäßig trainierten, vollschlanken und gut genährten Mannes mittleren Alters“, diktierte Veronika Granel in ihr Aufzeichnungsgerät, wobei ihre Stimme von den kahlen Wänden frostig widerhallte. Das Klicken der Stopptaste des Diktaphons klang wie der letzte Herzschlag aus der
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