EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
circa vierzig Jahre. Er wurde in so eine Art Abschlussrohr gesteckt. Ein sogenannter Kanalroboter, mit dem undichte Kanäle inspiziert werden können, war im Einsatz. Er wird oberirdisch gelenkt und ist mit einer empfindlichen Videokamera, mit Radar oder Ultraschall ausgerüstet, um defekte Stellen entdecken zu können. Die Bilder werden von Fachleuten in der Baracke hier oben empfangen und ausgewertet. Stell dir vor, dieser Roboter kann sogar direkt vor Ort die defekten Stellen reparieren.“
Van Cleef wurde ungeduldig. „Weiter, Neumann!“
„Doch auf den Bildern, die die Kamera übertrug, waren keine defekten Leitungen zu sehen, sondern eine kopflose Leiche. Die Spurensicherung holt sie gerade aus dem Rohr raus. Die Gerichtsmedizin ist auch schon da. Kein schöner Anblick. Sie steckt vielleicht schon seit Stunden da drin. Also, ich halte den Gestank dort nicht aus.“
Van Cleef schmunzelte.
„Das Lachen wird dir gleich vergehen. Hast du mal eine Zigarette?“
„Klar, habe ich. Hattest du nicht schon wieder aufgehört zu rauchen?“
„Warte, bis du ihn siehst. Dreht dir den Magen um.“ Neumann zündete sich die Zigarette an. „Da kommt deine Freundin von der Pathologie. O Gott, die hat mir gerade noch gefehlt.“
Veronika Granel kam mit energischen Schritten auf sie zu.
„Schwierige Voruntersuchung“; sagte sie. „Das Rohr ist bis oben mit einer stinkenden Säure gefüllt, und überall klebt Scheiße. Der Kopf lag – in ein Laken gewickelt – nur wenige Meter vom Rohr entfernt. Und vorher … Ach was, sieh es dir selbst an.“ Sie reichte Benedikt van Cleef eine Atemmaske. „Geh lieber allein rein. Das ist nichts für zarte Gemüter, nicht wahr, Herr Neumann?“
Neumann brummte etwas Unverständliches.
Sie zuckte mit den Schultern, dann drehte sie sich noch einmal kurz zu van Cleef. „An die Wand wurde mit Kreide etwas in polnischer Sprache gekritzelt.“
Neumann riss die Augen auf. „Ach, Frau Doktor können auch Polnisch! Was gibt denn unser jetziger Kandidat so von sich?“
„Neumann, bitte.“
„Lass mal, Benedikt. Der Junge ist gar nicht so übel.“
„Also, was steht denn da an der Wand?“, fragte van Cleef.
„ Wyk ł ujcie im oczy! Po ś lijcie ich na zatracenie, z ł amcie ich! Was so viel bedeutet wie: Stecht ihnen die Augen aus. Sie sollen verloren und gebrochen sein. Und: Oblejcie im rany kwasem! “
Neumann pfiff anerkennend durch die Zähne. „Alle Achtung. Und was bedeutet das?“
„Verätzt ihre Wunden mit Säure! Hat der Täter auch gemacht. Der Tote schwimmt förmlich in Säure. Wird eine schwierige Obduktion. Guten Abend, meine Herren.“
Benedikt van Cleef setzte sich den Mundschutz auf.
„Bereit?“, fragte Neumann.
„Verdammt, nein. Natürlich bin ich nicht bereit“, antwortete van Cleef.
„Und ich hab keine Lust, mir das noch mal anzusehen. Dort die Treppe runter, innen an der Absperrung entlang.“
„Bravo! Na, dann wollen wir mal“, knurrte van Cleef.
Er stieg die Leiter in den stinkenden Untergrund hinab, setzte die Atemmaske auf und durchschritt dann das an eine Kathedrale erinnernde Bauwerk der Münchener Kanalisation bis zum Fundort der Leiche.
Ihn fröstelte, als er an den dunklen Mauern entlanglief. Seit Max von Pettenkofer den Zusammenhang zwischen Cholera-Epidemien und der Grundwasserverseuchung erkannt hatte und konsequent für die Schaffung einer systematischen Kanalisation eingetreten war, hatte sich hier unten viel verändert. Diese Mauern waren jüngeren Datums und nach einem Entwurf des englischen Ingenieurs Gordon errichtet worden, der geschickt das nach Norden hin abfallende Geländeprofil genutzt und damit eine Entwässerung auf natürliche Weise ermöglicht hatte.
Und jetzt hatte jemand versucht, die Leitung mit einer in Säure getränkten Leiche zu blockieren. Na bravo!
Am Tatort angekommen, warf er rasch einen Blick auf das Opfer. Beim Anblick der von Säure angefressenen Leiche und des danebenliegenden blutigen, aber schon angebräunten Kopfs, auf dem große, metallisch blaue Schmeißfliegen ihre Eier ablegten, wurde ihm übel, und er wandte sich ab.
Zunächst galt es, genaue Todesursache und Identität der Leiche festzustellen, um mit den Ermittlungen weiterzukommen. Montag würde ihn Veronika Granel in den Saal der Toten führen. Bis dahin hoffte er, den bestialischen Gestank und den Ekel überwunden zu haben.
***
Nachdem Neumann ihn angepiepst hatte, betrat van Cleef wenige Stunden später die Wohnung von Andrej
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