Eiskalter Sommer
Amelie Karstens’ Räume waren leer, denn Marie Janssen hatte für ihn entschieden, dass die Wohnung renoviert und neue Möbel angeschafft werden mussten. Im Flur hatten sie Amelies Mobiliar zum Abholen bereitgestellt. Doch als die Möbelpacker geklingelt hatten, war keiner zur Tür gegangen, um ihnen zu öffnen. Und so schrillte die Klingel weiter und weiter.
Bis Röverkamp aufwachte und ihm dämmerte, dass es das altmodische Telefon in der Diele war, das den schrecklich-schrillen Ton verursachte. Er wälzte sich aus dem Bett und stapfte auf steifen Beinen hinaus. Als er den Hörer abnahm, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. Missmutig machte Röverkamp kehrt, um sich wieder in das zerwühlte Bett fallen zu lassen. Kaum hatte er dem Telefon den Rücken gekehrt, schrillte es erneut.
„Du hast ja einen guten Schlaf“, begrüßte ihn Marie Janssen. „Hab’s schon ein paar Mal probiert. Auch auf deinem Handy.“
Röverkamp stieß ein unwilliges Knurren hervor, das man mit etwas gutem Willen als „... nicht gehört“ deuten konnte.
„Wir haben eine neue Leiche“, fuhr die Kommissarin fort. „Im Kühlhaus eines Logistik-Unternehmens. Nach Aussage der Kollegen von der Streife sieht alles nach Fremdverschulden aus. Den Arzt habe ich schon verständigt. Wollen wir uns am Fundort treffen? Die Firma heißt CuxFrisch. Neufelder Straße. Weißt du, wo das ist?“
Röverkamp knurrte erneut. Marie schien das als Bestätigung zu nehmen, denn sie verabschiedete sich. „Bis gleich.“
*
Der Anblick eines ermordeten Menschen war immer erschreckend. Besonders, wenn die Leiche längere Zeit – möglicherweise sogar im Wasser – gelegen hatte. Oder wenn sie durch Misshandlungen entstellt war. Röverkamp hatte im Laufe seiner langen Dienstzeit zahlreiche Tote gesehen. In keinem Fall hatte der Körper eines Toten so natürlich und friedlich ausgesehen wie der Mann auf dem Gabelstapler. Marie Janssen, der Arzt und ein Mann der Firma hatten vor der Kühlhalle auf ihn gewartet und ihn nach der Begrüßung ins Innere der Halle geführt.
Röverkamp musterte den Toten und wandte sich an den Arzt. „Ist es das, wonach es aussieht?“
Der Mediziner nickte. „Der Mann ist wahrscheinlich erfroren. Theoretisch könnte er auch vergiftet oder auf andere Weise ums Leben gekommen und dann hier abgelegt worden sein. Ein endgültiges Urteil ist erst nach der Obduktion möglich. Die dürfte allerdings innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden nicht möglich sein. Wir müssen ihn erst ... auftauen.“
„Solange dauert das?“
„Haben Sie schon mal ein Seelachsfilet aufgetaut? Das hat vielleicht zweihundertfünfzig Gramm.“ Der Arzt deutete auf den Toten. „Der wiegt an die achtzig Kilo. Die brauchen ihre Zeit. Wenn wir ihn noch untersuchen wollen, können wir ihn auch nicht in heißes Wasser oder unter einen Heizstrahler legen.“
Hauptkommissar Röverkamp gab sich beeindruckt. „Sie werden das wie immer richtig machen.“
„Die Umstände deuten darauf hin“, mischte Marie Janssen sich ein, „dass der Mann in der Kühlhalle eingeschlossen worden ist. Der Notausgang auf der Rückseite war von außen blockiert. Wahrscheinlich auch die vordere Tür.“
„Dann brauchen wir die Spurensicherung“, murmelte Röverkamp.
Marie nickte. „Ich habe schon angerufen.“
„Gut.“ Röverkamp nickte dankbar. Er fröstelte. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Kollegin einen gefütterten Parka übergezogen hatte. Wo hat sie den her? Er selbst trug ein dünnes Hemd zur leichten Sommerhose. Die Kälte biss schlagartig in Haut und Glieder. „Wie kalt ist es hier eigentlich?“
„Minus achtundzwanzig bis zwanzig Grad“, antwortete der Mann, der sich als Peter Brütt, Geschäftsführer der Firma CuxFrisch, vorgestellt hatte.
„Wie lange kann man das aushalten?“
Brütt hob die Schultern. „Kommt darauf an, ob man Kälteschutzkleidung trägt. So wie wir und er“ – er wies mit dem Daumen auf den Toten – „ich meine Herr Evers, angezogen sind, vielleicht vier Stunden. Je nach Konstitution auch kürzer oder länger.“
„Haben Sie eine Erklärung dafür, warum der Mann auf dem Gabelstapler sitzt?“
Erneut hob der Geschäftsführer die Schultern. „Evers konnte eigentlich nichts damit anfangen. Der Schlüssel hängt im Büro.“
Röverkamp nickte. „Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Wie die junge Frau schon gesagt hat: Die Ausgänge waren blockiert. Mit Eisenrohren. Und wir sind zuerst auch
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