Eiskalter Sommer
Bedarf.“
Konrad Röverkamp war anderer Meinung, behielt diese aber für sich. Er schenkte Wein nach und hob sein Glas. „Lass uns auf Amelie anstoßen. Sie hatte ein langes Leben und einen schnellen Tod. Beneidenswert.“
„Ja“, ergänzte Marie. „Und sie war eine kluge Frau. Dass sie dir ihre Wohnung vererbt hat, finde ich großartig.“
Röverkamp seufzte und stellte sein Glas ab. „Ich weiß gar nicht, was ich mit den vielen Räumen anfangen soll. Die Wohnung ist doch viel zu groß für mich.“
Marie sah ihn mit großen Augen an. „Erstens kann eine Wohnung nie groß genug sein. Zweitens wolltest du doch sowieso nicht mehr als möblierter Herr leben und dir etwas Eigenes suchen. Und drittens wäre da noch eine Dame, die vielleicht gerne nach Cuxhaven ziehen und mit dir zusammenleben möchte.“
„Ich weiß nicht, ob Sabine das wirklich will.“
„Hast du sie denn schon mal gefragt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Dann solltest du das vielleicht einmal tun“, empfahl sie leise.
„Vielleicht hast du recht.“ Er nickte nachdenklich. „Aber ich möchte Sabine nicht mit der Wohnung unter Druck setzen.“
Marie lächelte. „Ich glaube nicht, dass sich eine Frau wie Sabine Cordes unter Druck setzen lässt. Aber sie muss wissen, was du willst. Und das musst du ihr sagen . Du möchtest doch mit ihr zusammenziehen. Oder?“
*
Irgendwann versagten seine Kräfte. Evers zitterte am ganzen Körper, und das Bedürfnis, sich auszuruhen, wurde übermächtig. Doch er durfte nicht innehalten, wollte sich weiter bewegen, zwang sich, den nächsten Karton in Angriff zu nehmen. Es gelang ihm, das Paket aus dem Regal zu ziehen. Aber seine Arme schafften es nicht mehr, es an die Tür zu werfen. Der Karton fiel zu Boden. Er starrte auf die hervorquellenden Garnelen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Um wieder zu Kräften zu kommen, würde er sich einen Moment ausruhen. Nur ganz kurz. Aber nicht auf dem Betonboden. Humpelnd kehrte er zum Gabelstapler zurück, erklomm unter Aufbietung aller Energie den Fahrersitz und ließ sich darauf fallen.
Wie durch ein Wunder wurde ihm warm. Evers lachte. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück, um sich ganz dem angenehmen Gefühl hinzugeben.
Das war eine gute Idee. Die Heizung in diesem Ding funktioniert auch ohne Motor. Das muss ich unbedingt Carlos erzählen. Und Brütt. Keiner hat das bisher bemerkt. Die werden sich wundern. Ich habe es ganz allein herausgefunden. Ganz allein ... Ich bin ganz allein. Zwischen all diesen Kartons. So viel Fisch. So viele Garnelen ... Die Garnelen kriegt Mama. Die weiß schon, was man damit macht. Zum Geburtstag hat sie immer Kartoffelsalat gemacht. Dieses Jahr schmeckt er besonders gut. Dazu gibt es Würstchen. Für jedes Kind eins. Auch für die Großen. Und hinterher Wackelpudding. Und Brause. Meine Freunde kommen gern zu meinem Geburtstag. Jeder hat etwas mitgebracht. Von Tante Inge und Onkel Werner habe ich ein Feuerwehrauto bekommen. Von Mama ein Paar Schuhe. Oma und Opa kommen erst heute Abend. Was sie mir wohl mitbringen? Das schönste Geschenk ist von Papa. Ein Märklin-Metallbaukasten. Auf dem Deckel ist ein Bagger. Den baue ich zuerst. Papa will mir helfen. Aber ich kann das schon alleine. Warum mir die Augen zufallen? Nein, Mama, müde bin ich nicht. Ich bin noch gar nicht müde. Überhaupt nicht müde. Es ist nur so warm hier ...
*
Carlos Rodriguez ärgerte sich über seinen Kollegen. Evers war gestern Abend einfach abgetaucht. Und dem Typen von der Zeitung war nichts Besseres eingefallen, als ihn zu löchern. Er müsse doch wissen, wo sein Kollege zu finden sei. Und ob es stimme, dass die Belegschaft irgendwas vorhabe.
Wie kommt der bloß darauf? Hat ihm einer was gesteckt? Aber dafür weiß er zu wenig. Vielleicht will er nur auf den Busch klopfen. Hoffentlich ist Evers jetzt schon in der Firma. Ich habe keine Lust, mich wieder mit dem Zeitungsfritzen herumzuschlagen.
Während Rodriguez seinen Wagen auf dem Firmenparkplatz abstellte, entdeckte er Evers’ blauen Golf. Er stand dort, wo der Kollege ihn immer abstellte. Also war er schon im Büro. Oder in der Kühlhalle.
Vielleicht hat er die Warenkontrolle gestern Abend nicht mehr geschafft.
Rodriguez schnappte sich seine Tasche und schlenderte in Richtung Verwaltungsgebäude. Auch die Kollegen, die durchs Werkstor strömten, bewegten sich heute gemächlicher als sonst. Es war, als würden sie die Arbeit der letzten Tage hinauszögern wollen. Als erlebten sie den
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