Eiskalter Sommer
Wahlkreisbüro des Abgeordneten Ostendorff herrschte die übliche Unruhe. Im Vorraum warteten ein Mann und eine Frau, die sich zu einem Informationsgespräch angemeldet hatten und nun ungeduldig auf die Uhr sahen, weil ihr Gesprächspartner sich verspätete. Wahlhelfer kamen und gingen, einige waren enttäuscht, weil sie sich mit Dankesworten, Ermunterungen oder Werbematerial von der Sekretärin begnügen mussten. Diese wiederum hatte alle Hände voll zu tun, Anrufer abzuwimmeln oder auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten.
Als Ostendorff schließlich eintraf, wurde er von wartenden Menschen umringt, mit Fragen und Wünschen bombardiert und von Telefonaten in Anspruch genommen. Erst gegen Abend kehrte Ruhe ein. Die Halbtagssekretärin war bereits gegangen, als er Gelegenheit fand, seine E-Mails zu kontrollieren. Neben den üblichen Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern und den unvermeidlichen Newslettern aus den Parteigliederungen gab es jede Menge Werbung.
Eine Nachricht stach aus dem Einerlei hervor, denn sie bestand nur aus einer Zeile: „Viel Vergnügen mit dem anhängenden Dokument.“ Der Mail-Anhang bestand aus einer Bilddatei. Ostendorff zögerte. In Fotos konnten Viren versteckt sein. Kurz entschlossen löschte er die Nachricht und schaltete den Computer aus. Dann griff er zum Telefonhörer. Julia und Christine würden bereits auf ihn warten. Damit er sich keinen Ärger einhandelte, war es besser, seine Verspätung anzukündigen.
Schon an Christines Tonfall erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Da er müde war und sich von den Ereignissen des Tages genervt fühlte, ging er darüber hinweg. „Ich komme etwas später. In zehn Minuten breche ich auf, das heißt, ich bin in ...“
„Stell’ dich darauf ein“, unterbrach ihn seine Frau, „dass sich hier eine Tragödie ereignet hat. Julia ist völlig von der Rolle.“
Ostendorff spürte weder diesen Schweißausbruch im Nacken. „Was ist passiert?“
„Skipper ... Er ist ... tot.“
„Überfahren?“ Ostendorff klammerte sich noch immer an die Hoffnung, dass alles nur Zufall war.
„Nein“, entgegnete seine Frau. „Man hat ihn getötet. Und in einem Umzugskarton vor unsere Tür gestellt.“
„Ich komme sofort nach Hause. Unternehmt nichts! Ich kümmere mich um alles.“
Nachdem Ostendorff aufgelegt hatte, schaltete er den Computer wieder ein. Der Anruf, die Yacht, der Hund. Das konnte kein Zufall sein. Und darum würde er die merkwürdige E-Mail aus dem Papierkorb zurückholen und sich die Bilddatei ansehen. Während der Rechner hochfuhr, fiel ihm ein, dass er den Mailanhang mit einem Virenprogramm prüfen konnte.
Wenige Minuten später erschien ein Foto auf seinem Monitor. Im ersten Augenblick glaubte der Abgeordnete an Werbung für schlüpfrige Internetseiten. Doch dann erkannte er die Frau.
Sein Herzschlag setzte aus.
*
Sie hatten sich im „Schnapp“ getroffen. Noch immer scheute Marie davor zurück, Felix zu sich nach Hause einzuladen. Alles deutete darauf hin, dass sie sich verliebt hatte, aber die Unsicherheit, ob sie körperliche Nähe wirklich wollte, war noch immer gegenwärtig. Einerseits sehnte sie sich nach Vertrautheit, und nach Berührungen, andererseits saß der Schock der letzten unglücklichen Affäre tief. Würde sie das Erlebnis mit dem Frauenmörder ihr Leben lang verfolgen? Oder brauchte sie einfach mehr Zeit, um sich einer Beziehung wieder vorbehaltlos öffnen zu können? Felix versteckte seine Zuneigung nicht, dennoch machte er keinerlei Anstalten, sie zu mehr Intimität zu drängen. Dafür war sie einerseits dankbar, andererseits überließ er ihr damit auch die Verantwortung für mehr Nähe.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, ergriff er ihre Hand und lächelte sie an. „Was hältst du davon, wenn wir uns mal woanders verabreden. Wo wir den Alltagsstress wirklich vergessen und uns mal längere Zeit auf uns selbst konzentrieren können.“
Marie unterdrückte den Impuls, ihre Hand zurückzuziehen. Gleichzeitig erschrak sie über ihre Reaktion. Die Berührung war angenehm warm und sandte Glücksgefühle durch ihre Nervenbahnen. Warum wollte etwas in ihr die Verbindung kappen? Für einen Augenblick lauschte sie den widerstreitenden Gefühlen in ihrem Inneren. Dann wurde ihr bewusst, dass er auf eine Antwort wartete. Aber ihr fehlten die richtigen Worte.
„Was meinst du, Marie?“ Er sah sie aufmerksam an.
„Du hast recht“, antwortete sie schließlich. „Etwas mehr Zeit für uns in anderer
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