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Eiskalter Sommer

Eiskalter Sommer

Titel: Eiskalter Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf S. Dietrich
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vor ihr eine rollende Gehhilfe, auf die sie einen Arm gestützt hatte. Aber sie hatte sich erstaunlich behände bewegt, war ihm jedes Mal gefolgt und hatte so lange an seinem Ärmel gezerrt, bis er nachgegeben oder eine zufällig vorbeikommende Schwester das Intermezzo unterbrochen hatte.
    Seitdem zog er es vor, kurz innezuhalten, den Kopf zu neigen und auf die Frage einzugehen. „Nein, Frau Oltrogge, ich weiß nicht, wie alt Sie sind. Wollen Sie es mir denn verraten?“
    Ein verschmitztes Lächeln verriet ihm, dass es genau das war, was sie im Sinn hatte. Mit gekrümmten Zeigefinger winkte sie ihn noch näher heran. „Weil Sie so ein netter Junge sind.“ Sie legte beide Hände an den Mund und flüsterte: „Vierhundertvierundvierzig Jahre.“
    Er quittierte die Zahl mit dem Ausdruck größter Überraschung. „Oh, das macht Ihnen so schnell keiner nach.“
    Triumphierend lehnte sich die alte Frau zurück. „Da staunen Sie, junger Mann, nicht wahr?“
    „In der Tat“, antwortete er. „Das ist bewundernswert.“
    Damit war der Ritus beendet. Mit einer großzügigen Handbewegung wurde er entlassen und konnte unbehelligt das Haus betreten.
    Im Laufe der Jahre, in denen er das Pflegeheim Kugelbake unzählige Male besucht hatte, war er immer wieder Menschen begegnet, die ihn am Eingang begrüßt, festgehalten oder in Gespräche verwickelt hatten. Einige hatten sich über das Essen beklagt, andere ihn gebeten, die Polizei zu informieren, weil sie bestohlen würden. Ein alter Herr hatte ihm unbedingt seine Kriegserlebnisse erzählen wollen, und eine sehr alte Dame hatte ihm regelmäßig aufgetragen, ihre Eltern in Altenbruch zu benachrichtigen, weil sie gegen ihren Willen festgehalten würde. Ein aufgeweckter junger Mann, der nach einem Motorradunfall an den Rollstuhl gefesselt war, verwickelte ihn gelegentlich in Gespräche zur Weltpolitik.
    Allen gemeinsam waren Arglosigkeit, treuherziges Vertrauen und eine ausgeprägte Mitteilsamkeit. Auch wenn manche Anliegen ein wenig verrückt erschienen, ließen sie doch viel Lebendigkeit erkennen.
    Eine Lebendigkeit, die er bei seiner Mutter schmerzlich vermisste. Seit er ausfindig gemacht und aus der Klinik hierher geholt hatte, reagierte sie weder mit Worten noch mit Gesten. Ihr Blick war meistens in die Ferne gerichtet, und wenn er mit ihr sprach, wusste er nicht, ob seine Worte bei ihr ankamen.
    Dennoch redete er viel mit ihr. Irgendwann hatte er entdeckt, dass sich ihr Blick nach innen zu wenden schien, wenn er länger sprach. Seitdem keimte in ihm die Hoffnung, dass etwas von dem, was er sich von der Seele redete, doch irgendwie in ihr Inneres vordrang.
    Einmal – an einem Wintertag vor drei oder vier Jahren – hatte sie gesprochen. Draußen hatte ein Schneesturm getobt, und plötzlich hatte sie begonnen, von Kälte zu reden, von Eis und Schnee. Und von Jungen, die sich auf den Hof ihres Vaters verirrt und mit ihm Karten gespielt hatten. Dann von einem Feuer, von Rindern im Schnee, von einem Hanomag und Männern, die ebenso geisterhaft verschwanden, wie sie zuvor aufgetaucht waren. Eine verwirrende Geschichte.
    Aber die Geister trugen Namen.
    Wie erstarrt hatte er dem Gemurmel seiner Mutter gelauscht, zerrissen von dem Wunsch, ihr weitere Einzelheiten zu entlocken, und der Angst, sie zum Verstummen zu bringen, wenn er sie drängte. Irgendwann war der Strom der Erinnerungen versiegt, sein Bitten und Betteln, sein Flehen und Drohen blieb vergebens.
    Doch was er gehört hatte, war in sein Gedächtnis eingebrannt, und er hatte begonnen, nach der ganzen Wahrheit zu suchen. Lange Jahre hatte er ihr minutiös von seinen Nachforschungen berichtet. Hatte die nicht enden wollende Reihe von Fehlschlägen, Misserfolgen und Enttäuschungen bei ihr abgeladen. Ihr über immer neue Hoffnungen berichtet, der richtigen Version ihrer Geschichte auf der Spur zu sein, mit Zuversicht selbst gewagte Szenarien vor ihr entworfen. Und schließlich die Gewissheit erlangt, die Quelle ihres und seines Leidens gefunden zu haben.
    Danach hatte er Pläne geschmiedet, hatte Details erwogen und verworfen, hatte, haarfein und pedantisch, aber auch mit zunehmender Leidenschaft, die Schritte festgelegt, mit denen er sein Ziel erreichen würde. Und er hatte es erreicht, zwei Mal schon. Hatte Leben ausgelöscht und dieses beglückende Gefühl genossen, dass sein Leben endlich einen Sinn gefunden hatte. In der Rache lag seine Erfüllung.
    „Es wird nicht mehr lange dauern“, schloss er an diesem Tag seine

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