Eiskalter Sommer
Überlegungen. „Dann ist es vollbracht.“
Seine Mutter reagierte nicht. Doch später, als er ging und die Tür hinter sich zuzog, war in ihrem sonst so versteinerten Gesicht doch eine Regung zu erkennen gewesen.
Frau Oltrogge saß noch auf ihrem Platz vor dem Eingang, als er das Heim verließ. Fröhlich winkte er ihr zu, doch sie schien ihn nicht zu bemerken. Gern hätte er ihr ein Geheimnis anvertraut. Aber er war nicht ganz sicher, ob er richtig gesehen oder sich nur eingebildet hatte, dass seine Mutter beim Abschied gelächelt hatte.
Auf dem Weg zu seiner Wohnung in der Gorch-Fock-Straße wanderten seine Gedanken zu den Plänen, die sein drittes Opfer betrafen.
*
Minutenlang hatte Ostendorff auf den Computerbildschirm gestarrt. Beunruhigende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Was auf dem Monitor zu sehen war, überraschte ihn maßlos. Natürlich hätte er damit rechnen müssen, dass Christine – ebenso wie er – sexuell eigene Wege ging. Andererseits hatte er ihr schlicht nicht zugetraut, dass sie es wirklich tat.
Was ihn beunruhigte, war weniger die Tatsache selbst als die Gefahr, die davon ausging. Jemand wusste davon und hatte dieses Wissen fotografisch dokumentiert. Wenn der Unbekannte das Foto an gewisse Medien weitergab, war er erledigt. Es genügte sogar, es einigen Parteifreunden zukommen zu lassen. Seine politischen Gegner würden sich vielleicht nicht die Finger mit Schmuddelgeschichten schmutzig machen, die eigenen Leute dagegen würden ihn gewiss aus dem Verkehr ziehen. Aus der Schusslinie nehmen, würde es heißen. Faktisch würden sie ihn aber in der Versenkung verschwinden lassen. Ende der politischen Karriere.
Er wusste, wie das lief. Ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Generalsekretär. Ein paar Tage, aber nicht allzu lange, würden sie darauf warten, dass er von sich aus Konsequenzen zog. Dann eine weitere Unterredung mit dem Büroleiter des Generalsekretärs. Schließlich die erste Indiskretion. Man würde einen der Partei gewogenen Journalisten mit Details versorgen. Wahrscheinlich zuerst mit der Adresse des Hannoverschen Liebesnestes.
Es gab nur eine Lösung, wenn er nicht erpressbar sein wollte: Er würde die Flucht nach vorn antreten und sich von Christine trennen müssen. Möglichst schnell und möglichst medienwirksam. Finanziell würde ihn das zwar an den Rand des Ruins bringen, aber sein politisches Überleben ermöglichen. Und um Julia auf seine Seite zu ziehen, besaß er ein schlagendes Argument.
Er sah es vor sich auf dem Bildschirm.
*
Mit einiger Mühe war es Christine Ostendorff gelungen, ihre Tochter zu beruhigen und in ihr Zimmer zu bringen. Sie redete noch immer tröstend auf sie ein, als unten im Haus eine Tür klappte. Sie sah auf die Uhr. Ihr Mann konnte es noch nicht sein. Wahrscheinlich war Tim zurückgekehrt.
Mechanisch strich sie Julia eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Meinst du, ich kann dich jetzt einen Moment allein lassen?“ Das Mädchen schniefte noch einmal und nickte. Christine erhob sich und eilte die Treppe hinunter.
Sichtlich erschrocken nahm Tim die Nachricht auf. Aber er erklärte sich bereit, den Karton mit dem toten Hund aus dem Haus zu bringen.
„Stell’ ihn hinten in die Garage. Mein Mann wird sich später darum kümmern.“ Voller Dankbarkeit legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Den Zeigefinger der anderen Hand führte sie an die Lippen und berührte dann die des jungen Mannes. „Dann kannst du gehen. Wir sehen uns morgen wieder.“
In diesem Augenblick hörte Christine ein Geräusch von oben. Sie wandte sich um und sah eine Bewegung am oberen Ende der Treppe. Rasch schob sie Tim zur Tür, dann eilte sie hinauf. Julias Zimmertür war geschlossen. Sie klopfte und drückte die Klinke nieder.
Ihre Tochter hatte sich eingeschlossen. Auf Christines Klopfen und Rufen reagierte sie nicht.
16
In der Scheune hatten sie einen stabilen Schlitten gefunden. Damit waren sie losgezogen und hatten Susanne geholt, deren Körper teilweise unter einer Schneedecke verschwunden gewesen war. Hastig hatten sie den Schnee beiseite gefegt. Gesicht und Hände waren blau gefroren, aber ihr Atem war deutlich spürbar gewesen. Und sie war bei Bewusstsein. Teilnahmslos hatte sie sich auf das Gefährt setzen lassen. Hendrik und Sven hatten gezogen, Jan an den Schultern des Mädchens geschoben. Und so waren sie der tiefen Spur des Treckers bis zum Hof gefolgt.
Hier hatten sie Susanne in die warme Wohnstube geschleppt und von der durchnässten und
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