Eiskalter Sommer
uns mal kurz ins Wohnzimmer gehen, Marie. Es dauert nur ein paar Minuten.“ Holger Janssen schob eine Videokassette in den Recorder. „Habe ich gestern aufgenommen. Eigentlich hatte ich auf Neuigkeiten über die Elbvertiefung gehofft. Und dann kam das.“
Der Fernsehbild flackerte kurz auf, dann erkannte Marie die Szene vom Vortag auf der Insel Neuwerk wieder. Zuerst erschien der Senator aus Hamburg, dann der Abgeordnete Ostendorff. „Jetzt pass auf!“ Ihr Vater deutete zum Bildschirm.
„Gilt das auch für die Elbvertiefung?“, klang eine vertraute Stimme aus dem Fernsehlautsprecher. Die Kamera schwenkte ins Publikum und erfasste Felix Dorn. Der Fragesteller sah herausfordernd in die Kamera und hatte seinen Arm um die junge Frau neben sich gelegt.
Marie lächelte. Das also hatte ihre Eltern in Aufregung versetzt.
„Ein sympathischer junger Mann“, bemerkte ihr Vater und stellte den Videorecorder aus.
Marie nickte abwesend. Etwas auf dem Fernsehbild hatte sie irritiert. „Schalt bitte wieder ein, Vater. Ich möchte das gerne noch einmal sehen.“
„Mit Vergnügen.“ Ihr Vater drückte Knöpfe auf der Fernbedienung. „Deine Mutter und ich haben das schon mindestens fünfmal gesehen. Und nun brennen wir darauf, etwas über deinen netten Begleiter zu erfahren.“
„Später. Kannst du das mal langsamer laufen lassen?“
„Natürlich, mein Schatz. Wir freuen uns ja so ...“
„Stopp!“, rief Marie. „Etwas zurück. Jetzt anhalten. – Danke.“
„Ein hübsches Paar. Wer ist der junge Mann?“
Marie schüttelte unwillig den Kopf. „Später, Vater. Im Augenblick interessiert mich etwas anderes. Kann ich die Kassette mitnehmen? Du bekommst sie natürlich zurück.“
„Na klar, du kannst sie haben. Willst sie bestimmt auch dem jungen Mann ...“
„Nein, nein. das meine ich nicht. Siehst du den Mann unmittelbar hinter mir? Das Gesicht habe ich schon einmal gesehen. Auf einem Foto, das vor fast dreißig Jahren aufgenommen wurde.“
„Aber ...“ Holger Janssen sah seine Tochter zweifelnd an.
„Ich weiß, Vater. Es kann nicht sein. Der Mann dort ist ungefähr so alt wie ich. Trotzdem ... Ich muss der Sache nachgehen. Möglicherweise kann er uns wichtige Hinweise geben. Darum brauche ich das Band.“
Seufzend beugte sich ihr Vater zum Videorecorder und ließ die Kassette auswerfen. „Und ich hatte gehofft ... Na ja, sei’s drum. Das ist schon ein besonderer Beruf, für den du dich entschieden hast. Bleibst du wenigstens noch zum Abendbrot? Oder willst du damit gleich zu deinem Hauptkommissar?“ Er drückte Marie die Videokassette in die Hand.
In Marie arbeitete es. Am liebsten hätte sie Röverkamp sofort angerufen und wäre zur Dienststelle gefahren, um ihm die Aufnahme zu zeigen. Aber damit hätte sie ihren Eltern den Sonntag verdorben. Und Fahndungsmaßnahmen würden sie ohnehin erst morgen früh einleiten können. „Ich bleibe“, sagte sie schließlich. „Konrad ist wahrscheinlich noch bei seiner Freundin. Und da will ich ihn nicht stören.“
„Eine sehr kluge Entscheidung.“ Holger Janssen strahlte. „Dann lass uns wieder rausgehen. Deine Mutter wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf eine Antwort.“
„Eine Antwort? Worauf?“
Janssen schmunzelte. „Für eine Kriminalistin kannst du ganz schön blöde Fragen stellen.“
*
Trotz der verfahrenen Ermittlungssituation betrat Konrad Röverkamp am Montagmorgen die Polizeiinspektion in bester Laune. Was er am Dienstag bei Sabine nicht anzusprechen gewagt hatte, war am Wochenende doch Thema geworden. Als hätte sie die Gedanken erraten, die in seinem Kopf kreisten, hatte sie ihn mit einem Vorschlag überrascht.
Zunächst war die Stimmung allerdings ein wenig bedrückt gewesen, nachdem er auf ihre Frage, was ihn beschäftige, zu Ausflüchten gegriffen hatte. Daraufhin war sie für eine Weile verstummt. Schließlich hatte er sich dazu durchgerungen, Amelies Tod und das Erbe zu erwähnen. So beiläufig wie möglich. Aber sie hatte alles genau wissen wollen. Jede Einzelheit hatte sie ihm aus der Nase gezogen.
Dann hatte sie diese Frage gestellt, die plötzlich alles in einem neuen Licht erscheinen ließ. „Was hältst du davon, wenn wir deine Wohnung völlig neu einrichten?“
„Wir? Du sagst wir ? Du meinst ... du willst ... mit mir ...?“
„Es muss doch etwas geschehen, Konrad. Die alten Möbel, hast du gesagt, werden von Amelie Karstens’ Sohn irgendwann abgeholt. Renovierungsbedürftig ist die Wohnung auch. Und du
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