Eiskalter Wahnsinn
Ausgabe des Tyrannen entwickelt, der er bereits während ihrer gemeinsamen Schulzeit gewesen war. Wally, der ewige Tölpel, schien zufrieden oder sogar erfreut, dass er den Tyrannen jetzt auf seiner Seite hatte, ungeachtet der Folgen für ihn. Lillian schob sich in einer raschen, nervösen Geste die Brille auf die Nase. Sie war nicht die Einzige, der das seltsame Arrangement der beiden Männer auffiel. Warum sonst hießen sie überall nur Calvin und Hobbs, nach dem Comicstrip über den fantasievollen, manchmal seltsamen kleinen Jungen und seinen imaginären Tiger, der ausschließlich in Calvins Gegenwart lebendig wurde.
Lillian beobachtete den üblichen Auftritt des Tyrannen mit seinem willigen irischen Trottel. Doch heute sah sie es nicht nur angewidert, sondern auch beschämt. Warum war ihr Bruder so schwach, warum wehrte er sich nicht? Es schien, als genieße er die Aufmerksamkeit, gleichgültig, zu wessen Lasten sie ging. Warum sonst ließe er es sich gefallen? Vielleicht lag es aber auch an jahrelanger Gewohnheit, dass er einfach stillhielt. Vielleicht war das Aufwachsen bei einer tyrannischen Mutter, die oft im selben Satz strafte und lobte, der wahre Grund für seine Duldsamkeit.
Vielleicht empfand sie weniger Scham als vielmehr Reue, dass sie als ältere Schwester ihren Bruder nicht hatte beschützen können. Aber wie hätte sie das anstellen sollen? Schließlich war sie auch nicht von den Attacken der Mutter verschont geblieben. Allerdings hatte sie Trost in Büchern gesucht und gefunden. Sie hatte gelernt, in ihre Fantasiewelt zu entfliehen, zu fantastischen Freunden, an fantastische Orte. Wally hatte dieses Glück nicht gehabt. Merkwürdig, wie einige Morde in der Nähe solche Erinnerungen ausgruben. Ausgruben! Ach herrje, was für ein Lapsus. Lillian musste schmunzeln.
Calvin prahlte, wie er die erste Leiche gefunden hatte. Er brüstete sich mit der Geschichte, die er in immer neuen Varianten erzählte. Wie oft wohl in den letzten vierundzwanzig Stunden? Und jedes Mal kamen zur Ausschmückung weitere Details hinzu, die er in der Ursprungsfassung wohl vergessen hatte.
„Ich wusste sofort, dass sie tot ist“, verkündete er lautstark einem neuen Publikum, das auf jedes grausige Detail lauerte. „Ich konnte sehen, dass man ihr den verdammten Schädel eingeschlagen hatte. Da war überall Blut. Es tropfte aus dem Fass. Eimerweise. Zum Glück war der alte Wally nicht bei mir. Der ist so ‘n Weichei, der hätte das Frühstück der ganzen letzten Woche ausgekotzt. Stimmt’s nicht, Wally?“ Calvin wuschelte ihm mit seiner riesigen Pranke das Haar, als wäre er ein kleines Kind.
Lillian verdrehte die Augen und merkte, dass Wally sie ansah. Obwohl sein Partner ihn niedermachte, blieb er neben ihm am Kaffeetresen stehen, ein dümmlich schiefes Lächeln im Gesicht.
„Unsere ganz eigene Kaffeehausunterhaltung“, sagte Rosie, stellte sich neben Lillian und zog einige Taschenbücher aus dem Regal hinter ihr.
„Sollen wir sie bitten zu gehen?“ fragte Lillian. Aus Sorge, Rosie könnte sie auffordern, das zu übernehmen, zog sich ihr gleich der Magen zusammen.
„Nein, mach dir nicht die Mühe. Die Leute sind gierig nach Informationen. Sieh sie dir doch an.“ Sie deutete auf die wachsende Menge um Calvin und Wally. „Ist gar nicht so übel, wenn unser kleiner Buchladen zur Informationsbörse wird, an der man sich die grausigen Details holt. Es macht dir doch nichts aus, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Aber hat Henry nichts dagegen?
„Es ist nicht Henrys Laden“, entgegnete Rosie knapp, und Lillian wusste, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. „Außerdem, wenn sie die Informationen woanders bekommen können, hören sie vielleicht auf, Henry zu belästigen.“
Lillian verzichtete auf den Hinweis, dass Calvins Informationen vermutlich falsch oder erfunden waren. Sie sah, dass Rosie zu lächeln begann. Die Sorgen der letzten vierundzwanzig Stunden zeigten sich bereits in neuen Linien um ihre Mundpartie und auf der Stirn. Lillian dachte oft, was für eine Schönheit Rosie, die einstige High School Prom Queen, immer gewesen war. Man sah es heute noch. Rosie war immer noch eine attraktive Frau. Und sogar die neuen Linien entstellten ihr Gesicht nicht etwa, sondern machten es interessant.
Da bemerkte Lillian, was die Miene ihrer Partnerin aufgehellt hatte. Ihr großer strammer, gut aussehender John-Wayne-Verschnitt von Ehemann war durch die Tür gekommen. Alle Aufmerksamkeit richtete sich plötzlich
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