Eiskalter Wahnsinn
Schaugestell aufbaute. Rosie hatte wieder mal eine exzellente Idee gehabt, doch Lillians Gedanken schweiften ab. Wie sollte sie sich konzentrieren, wenn alle halbe Stunde ein anderer Medienvan vorbeirauschte? Das war weitaus interessanter als der übliche Blick auf die kahlen grauen Grabsteine jenseits der Mauer des Center Street Friedhofs.
Heute Morgen hatten sie ein halbes Dutzend auswärtige Reporter bedient, während im neuen tragbaren Fernseher Good Morning America gelaufen war. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis Diane Sawyer oder Charlie Gibson sich an ihrem kleinen Kaffeetresen einfanden. Tatsächlich glaubte Lillian, einen Reporter erkannt zu haben, der einen doppelten Espresso bestellt hatte. Sie hatte ihn in Fox News gesehen, aber sie erinnerte sich nicht an den Namen.
Sie sah die Bücher durch und behielt dabei die Schaufensterscheibe im Auge. Rosie hatte vorgeschlagen, auf einem Tisch nur Mordgeschichten auszustellen, dazu vielleicht ein oder zwei Sachen über Serientäter. Das passte zweifellos zur gegenwärtigen Atmosphäre, obwohl es ein wenig makaber war. Rosie hielt es für eine gute Geschäftsidee. Lillian fürchtete allerdings, dass sich der eine oder andere daran stoßen und es geschmacklos finden könnte. Sie überwand ihre Bedenken jedoch, als ihr klar wurde, dass sie auf diese Weise ihre Lieblingsautoren herausstellen konnte.
Vieles von dem, was heutzutage geschah, erinnerte sie an Fälle aus Büchern, die sie gelesen hatte. Diese Geschichte im Steinbruch bildete da keine Ausnahme und klang in der Tat, als sei sie der Fantasie von Jeffrey Deaver oder Patricia Cornwell entsprungen. Mit Fiktion konnte Lillian gut umgehen. Krimis waren riesige Puzzle, deren Einzelteile nur darauf warteten, geordnet und richtig zusammengefügt zu werden. Was gewöhnlich zu einem aufregenden Höhepunkt und einer sauberen, ordentlichen Lösung führte. Und wenn nicht ordentlich und sauber, dann doch wenigstens sinnvoll.
Die Realität war nicht so leicht zu durchschauen und ergab manchmal gar keinen Sinn.
Sie unterbrach das Arrangieren der Bücher, nahm das obere Buch auf und blätterte es durch. In dieser Serie kannte sie alle Protagonisten, die Handlungsstränge und die Vorgehensweise der Killer. Sie konnte sogar einige Lieblingsstellen auswendig aufsagen. Aber diese Morde vom Steinbruch waren sonderbar.
Die Realität übertraf mal wieder jede Fiktion. Sie ertappte sich dabei, die realen brutalen Morde gedanklich zu analysieren, wie den Krimi eines neuen Autors, wo sie beim Lesen so viele Hinweise wie möglich suchen würde, um das Rätsel zu lösen. Automatisch hatte sie schon begonnen, das Profil des Killers zu erstellen, wobei sie Wesensmerkmale und deren Abweichungen heranzog, wie sie es von den Meistern ihres Faches wie Cornwell, Deaver oder Patterson gelernt hatte.
Ein anderer fand ihre Überlegungen bestimmt albern, weshalb sie ihre Gedanken auch für sich behielt. Allerdings versuchte sie Rosie alle Informationen zu entlocken, die Henry, deren Mann, vielleicht ausgeplaudert hatte.
Lillian stapelte die Taschenbücher zu einer kreativen Pyramide und wählte dann ein halbes Dutzend aus, die aufrecht stehen sollten, wobei sie die innovativen neuen Plastikständer benutzte, zu deren Kauf Rosie sie überredet hatte. Sie packte den blendend weiß-blauen Einband von Dennis Lehanes Mystic River zwischen den schwarzroten von Jan Burkes Bones und die schwarzweiße schwer zu findende Ausgabe von The Prettiest Feather von John Philpin und Patricia Sierra. Dies war eine ausgezeichnete Gelegenheit, Rosie zu beweisen, dass ihre zwanghaften Käufe letztlich kluge finanzielle Entscheidungen waren.
Die Türglocke läutete, und Lillian blickte über die Schulter. Ihr Bruder Wally grüßte, indem er winkend einen Finger hob. Sie erwiderte den Gruß und bemerkte unwillig, dass Calvin Vargus ihm folgte. Calvin füllte mit seiner massigen Gestalt und dem donnernden Lachen sofort den Laden. Er klopfte Wally auf den Rücken, was bei seiner Pranke eher dem Schlag mit einem Tennisschläger gleichkam.
Lillian widmete sich wieder ihrem Arrangement. Sie wollte gar nicht wissen, über was die beiden lachten. Da gab es immer etwas, das sie für lustig hielten. Aber sie verabscheute es zu sehen, wie Wally Calvins Misshandlungen hinnahm. Obwohl Wally es niemals so nennen würde.
Ihr Bruder und sein Geschäftspartner hatten eine eigenartige Beziehung zueinander. Calvin hatte sich zu einer größeren und noch gemeineren
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