Eiskalter Wahnsinn
sollten heute hier lernen. Ist das okay?“
Sie hatte ihren Arm voll Bücher bereits aufs Sofa geworfen und ging in die Hocke, um Harvey zu umschlingen. Sie lachte ihre Freundin an, die beiseite gehen musste oder Gefahr lief, von der wedelnden Hunderute geschlagen zu werden.
„Du kannst ihn ruhig streicheln“, sagte Emma zu Aleesha, die auf Erlaubnis zu warten schien. „Können wir später zum Dinner eine Pizza bestellen, Dad?“
Sie ließ sich von Harvey die Hand lecken und sah ihren Vater erwartungsvoll an. Tully glaubte in ihrem Blick ein Funkeln und Strahlen zu entdecken, das er sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Das war reines, unverfälschtes Glücklichsein.
„Sicher, Süße. Aber nur, wenn ich auch etwas bekomme.
„Klar kriegst du was ab. Du zahlst doch.“ Sie verdrehte kurz die Augen, lächelte jedoch bereits wieder.
Wer hätte gedacht, dass es lediglich des freudigen Begrüßungsrituals eines Hundes bedurfte, die Augen seiner Tochter wieder strahlen zu lassen. Mädchen im Teenageralter würde er nie verstehen.
Genau genommen erstaunte es ihn weniger, dass Emma fast sechzehn war, als vielmehr die Tatsache, dass er der Vater einer Sechzehnjährigen war. Dabei kannte er sich mit Teenagern überhaupt nicht aus. Vater eines kleinen Mädchens zu sein mochte noch angehen. Er verstand sich aufs Beschützen, Behüten und Bewundern. Doch diese Fähigkeiten schienen in den Augen einer Teenagertochter nicht mehr zu zählen.
„Komm schon, Harvey!“ rief Emma den Hund vom Flur aus. „Sieh ihn dir an“, hörte Tully sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer zu Aleesha sagen. „Das ist absolut cool. Er liegt am Fußende meines Bettes, als würde er mich bewachen. Und dann dieser Blick aus den großen, traurigen braunen Augen, ist das nicht toll?“
Tully schmunzelte. Das beim Vater verpönte Beschützen und Behüten galt beim Hund offenbar als hervorragende Charaktereigenschaft. Wurde er soeben im Leben seiner Tochter ersetzt? Na gut, besser durch einen Hund als durch einen Jungen.
Er widmete sich wieder Joan Begleys E-Mails. O’Dell hatte gesagt, der Täter vom Steinbruch könne paranoid und delusorisch sein. Sie vermutete, dass er die Leichen versteckt hatte, weil er seine Taten verheimlichen wollte. Dieses Verhalten stand im Gegensatz zu dem der meisten Serientäter, die zur Demonstration von Dominanz und Macht ihre Opfer regelrecht zur Schau stellten. Laut ihrer Interpretation ging es ihm nicht in erster Linie ums Quälen und Töten. Das Töten verschaffte ihm möglicherweise nicht einmal Befriedigung. Wenn sie Recht hatte mit ihrer Theorie, war das Töten nur ein notwendiges Übel, um an seine, wie O’Dell es nannte, Trophäen zu gelangen. Wenn das jedoch derselbe Mann war, der Joan Begley verschleppt hatte, war die Frage, was er von ihr wollte.
Tully ging den Inhalt der E-Mails von Sonny an Joan Begley durch. Sie klangen, als sei er aufrichtig an ihr interessiert und sehr um sie besorgt. Was zweifellos eine notwendige Masche war, Opfer anzulocken und ihr Vertrauen zu gewinnen. Doch das hier ging über eine Masche hinaus.
Da stand: „Du musst die Trauer zulassen. Sei traurig. Das ist okay. Es muss dir nicht peinlich sein. Niemand wird dich deshalb für einen Schwächling halten.“
Ging Sonny Boy eine emotionale Beziehung mit seinen Opfern ein, hatte er tatsächlich Mitgefühl? Vielleicht bedauerte er sie wegen ihrer Leiden? Gehörte das zu seinem Spiel, oder war das nur bei Joan Begley anders?
Tully war geneigt, O’Dell Recht zu geben. Vielleicht verbarg der Täter die Leichen wirklich aus Scham. Aber konnte das sein? Ein Killer, der sich für seinen Drang schämte, deformierte oder erkrankte Teile der Anatomie seiner Opfer besitzen zu wollen? Möglich. So betrachtet ergab es Sinn, dass er seine Serie mit einem Toten begonnen hatte. Laut O’Dell hatte es da einen älteren Mann mit Hirntumor gegeben, der bereits einbalsamiert und beerdigt worden war. Vielleicht hatte Sonny Boy mit Toten angefangen und war dann mutiger geworden. Oder sein Drang, bestimmte Körperteile zu besitzen, war stärker geworden als seine Skrupel zu töten.
Tully lehnte sich zurück und starrte auf den Computermonitor, Sonny Boys letzte E-Mail an Joan Begley noch geöffnet. Wie paranoid und delusorisch war der gute alte Sonny Boy? Er war versucht, es herauszufinden.
Wahrscheinlich sollte er das erst einmal mit O’Dell besprechen. Wahrscheinlich sollte er nicht voreilig etwas Leichtsinniges tun. Andererseits, was hatte er
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