Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
Vom Netzwerk:
Vanessa-Klinger-Gedenkseite eingerichtet. Sie quoll über vor lauter Nachrichten, die im Sekundentakt eintrafen . Oh Gott, Nessa, warum? … Ein Stern ist verloschen … Werden dich nie vergessen … RIP , beautiful … Warum musste Nessa sterben?
    Ich blinzelte, sah noch mal hin. Unter das letzte Posting hatte jemand sofort eine Antwort geschrieben. Da fragst du am besten mal Lena Koschatz! Innerhalb weniger Sekunden gefiel das siebzehn Leuten.
    Ein Keuchen kam aus meinem Mund, ungläubig und bestürzt.
    Einer dieser Leute war Leander.

13
Juni
    Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was mit Leander ist. Der Albino kaut hektisch Kaugummi und wippt vor mir auf und ab. Der andere Typ sieht fast ein bisschen gelangweilt aus. Mir direkt gegenüber leuchtet ein helles Viereck an der dreckigen Wand. Dort stand mal der Fernseher, könnte ich wetten. Das heißt, da, wo ich jetzt stehe und wo sich trotz der Kühle klammer Schweiß unter meinen Achseln ansammelt, hat mal eine Familie gesessen und mit dösigem Blick das Abendprogramm geguckt. Nachrichten. Serien. Krimis mit schlecht geschminkten Leichen und falschem Blut.
    Ohne Vorwarnung klatscht mir die Hand des Albinos ins Gesicht. Ich zucke zurück, schreie auf. Tränen schießen mir in die Augen, meine Wange brennt. Aber noch mehr brennt die Demütigung. Die Wut.
    »Also?«, zischt er.
    Der Skarabäus zieht kurz die Augenbrauen hoch und schüttelt tadelnd den Kopf. Gilt das meiner Verstocktheit oder dem widerlichen Albino?
    »Ich will wissen, wo Leander ist, sonst sag ich gar nichts!«, schreie ich wütend.
    Im Nachbarzimmer werden Stimmen laut, ich spitze die Ohren.
    Der Albino verzieht den Mund, aber sein Kumpel geht dazwischen.
    »Ist doch kein Problem«, sagt er so freundlich, als hätte ich ihn gerade nach dem Weg zum Freibad gefragt. »Wir sind ja keine Unmenschen.« Er nickt dem Albino kurz zu, deutet ihm an, mit rauszukommen.
    Ich atme auf, als die Tür hinter ihnen zugeht. Das Fenster! Im Nu bin ich dort. Die Fensterscheibe ist eingeschlagen, durch das Loch passt maximal eine Katze. Ich rüttele am Fensterrahmen, aber nichts bewegt sich. Das Scheißfenster ist noch von Neunzehnhundert-wann-auch-immer, aber es hält, als wäre es mit modernem Sekundenkleber versiegelt.
    Es knackt an der Tür, ich husche zurück. Vielleicht soll ich ihnen einfach sagen, wo es ist. Dann holen sie es und gut ist.
    Und gut ist? , höhnt die kleine Stimme in meinem Kopf. Dann leben alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Du weißt zu viel. Leander auch. Was glaubst du denn, was sie dann mit dir machen?
    Die Tür geht auf, es ist der Albino, er hat die Sonnenbrille endlich abgenommen. Seine Augen sind nicht rot, sondern von einem glasigen Blau und stehen leicht vor. Er sieht frustriert aus. Ein frustrierter Fisch.
    Ihm folgt sein Kumpel. Und ein dritter Mann. Mit Aknenarben im Gesicht und einer Wollmütze auf dem Kopf. Er mustert mich und verschränkt die Arme vor der Brust.
    »Dann mal rein in die gute Stube«, sagt der Skarabäus gut gelaunt. Und schiebt eine vierte Person in den Raum.
    Es ist Leander! Sein Gesicht leuchtet kurz auf, als er mich sieht. Dann dämmert ihm offenbar, dass ich nicht hier bin, um ihn zu befreien. »Lena«, sagt er. »Was machst du denn hier? Ich …«
    »So«, unterbricht ihn der Skarabäus. »Jetzt ist es ja richtig gemütlich, da können wir endlich mal zur Sache kommen. Hier ist dein Freund. Also?«
    Mein Freund. Leander wirft mir einen verstohlenen Blick zu. Er hat das T-Shirt an, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. Sag was, flehe ich ihn stumm an. Nun sag doch endlich was.
    Er sagt was. »Lasst ihr uns dann gehen?«
    Im Gesicht des Albinos zuckt etwas auf – Belustigung? Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber es reicht. Es sagt mir alles, was ich wissen muss. Natürlich haben sie nicht vor, uns gehen zu lassen.
    »Sicher«, sagt der Skarabäus, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ihr habt es euch doch bestimmt nicht angesehen, oder?«
    »Nein«, lüge ich hastig. Die Lüge segelt durch den Raum, an der gelblichen Wand und den hellen Flecken entlang, prallt an der Tür ab und landet in unserer Mitte. Für jeden sichtbar.
    »Dann wäre ja alles geklärt«, sagt der dritte Mann.
    »Es ist in meinem Schrank in der Schule«, sagte ich. Was bleibt mir sonst übrig?

14
Mai
    Moses mochte das Rote Meer geteilt haben, aber ich konnte es durchaus mit ihm aufnehmen. Ich schaffte es, dass sich die Korridorgänge der Schule im Nu vor mir leerten, dass

Weitere Kostenlose Bücher