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Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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wissen. Ich hatte einen Scheißabend gehabt und viel zu viel getrunken und büßte jetzt dafür, und wie der Ohrring zu mir gekommen war, verstand ich auch nicht.
    Die Ärztin sprach kurz mit dem Mann von der Kripo, sie sahen zu mir und er nickte. Kurz darauf kam sie wieder und nahm mir mit professioneller Geschwindigkeit Blut ab.
    »Zu Hause hinlegen und schlafen und viel trinken«, befahl sie mir. »Und beim nächsten Mal am besten nur Cola.«
    Der Mann von der Kripo trat zu uns. Ich konnte Leanders Eltern hinter ihm sehen, die ihren Sohn umarmten. Seine Mutter weinte. Mich hatten sie entweder nicht gesehen oder sie ignorierten mich. Kurz dachte ich an die zahllosen Abende in seinem Haus, an gemeinsame Essen, an den Nikolausstrumpf, den seine Mutter mir geschenkt hatte. An Kimmys Bilder für mich, auf denen sie Leander und mich bei unserer zukünftigen Hochzeit gemalt hatte – zwei krakelige Figuren, die über dem Boden schwebten und sich an den Händen hielten.
    »… kann sein, dass wir uns dann noch mal melden«, sagte der Mann namens Wenzel zu meinem Vater. »Vielleicht erinnerst du dich ja doch noch an etwas.« Das galt mir. Ich nickte. Konnten wir gehen? Was war mit dem Ohrring? Auf keinen Fall würde ich fragen. Ich war froh, wenn ich hier wegkam.
    Und dann gingen wir endlich. Meine Mutter hielt mich fest wie eine Kranke, und weil wir so langsam vorwärtskamen, spürte ich, wie mich der Blick jedes einzelnen Jugendlichen hier verfolgte.
    Blicke ohne Mitleid. Blicke voller Abscheu.
    Zu Hause lag ich fast eine Stunde lang in der Badewanne, ließ das heiße Wasser in alle Poren dringen und rieb mir mit einem Schwamm den Dreck der vergangenen Nacht ab. Die Erinnerung ließ sich leider nicht so leicht wegschrubben. Es war, als ob mir erst hier in der friedlichen blau-weiß gekachelten Welt unseres Badezimmers so richtig klar wurde, was passiert war. Vanessa lebte nicht mehr. All ihre Schönheit, ihr Erfolg, ihre reichen Eltern, ihre guten Noten und ihr Charme, mit dem sie alle dauernd um den Finger wickelte, hatten sie nicht davor bewahren können, den Felsen hinunterzustürzen. Ich griff nach dem Shampoo. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie sollte ich jemals wieder mit Leander reden? Da, wo gestern noch Wut auf Vanessa in mir geschwelt hatte, war jetzt nichts als kalte Asche und Leere. Ich schämte mich für mein Benehmen und ich hoffte wirklich, dass sie bei ihrem Sturz nichts mehr gemerkthatte. Vanessas Eltern taten mir leid. Einen Moment lang versuchte ich, mir meine Eltern in dieser Situation vorzustellen, aber es war unmöglich.
    Genau, wie es unmöglich war, sich vorzustellen, dass es Leander hätte sein können, der den Berg hinuntergestürzt war. Er musste völlig am Ende sein. Und auch wenn es absurd klang – ich hätte jetzt bei ihm sein und ihn einfach nur festhalten müssen. Der Gedanke an sein schmerzverzerrtes Gesicht schnürte mir die Kehle zu. Aber ich konnte ihn unter keinen Umständen anrufen. So, wie er mich heute angesehen hatte …
    Dachte Leander ernsthaft, dass ich Vanessa diesen Ohrring abgerissen hatte? Dass wir einen Zickenkrieg ausgetragen, uns auf dem Boden gewälzt und an den Haaren gezogen hatten? Dachte dieser Polizist das?
    Ich stieg aus der Wanne, trocknete mich ab, bis ich am ganzen Körper rot war, trank Wasser direkt aus dem Wasserhahn und schlich in mein Zimmer. Dort stieg ich über meine Klamotten auf dem Boden, schob Mathildes Kiste zur Seite und griff nach meiner Tasche, um mein Handy rauszuholen. Plötzlich fiel mir etwas auf und ich hielt inne. Mein Handy summte und jingelte sonst nonstop vor sich hin. Heute war es beängstigend still geblieben. Ich zog es heraus und sah auf das Display. Niemand hatte mich angerufen. Weder Tine noch Nadine noch Julia noch sonst jemand. Standen sie alle unter Schock? Ich hatte auch nur zwei SMS bekommen.Die Nummern sagten mir gar nichts. Ich öffnete die erste.
    Bist du jetzt glücklich, dass Nessa tot ist, du perverse Kuh?
    Was? Ich öffnete erschrocken die zweite Nachricht, diesmal von einer anderen Nummer.
    Du bist doch das Letzte.
    Nein. Nein! Mein Herz hämmerte wie verrückt. Waren die denn komplett übergeschnappt? Wer war das überhaupt? Und wie kamen die an meine Nummer?
    Ich kroch in mein Bett, nahm meinen Laptop mit und loggte mich ein. Keine E-Mails, nur Werbemist. Auf Facebook hatte ich auf einen Schlag nur noch 223 Freunde. Nicht, dass es mir was ausmachte, aber was hatte das zu bedeuten? Jemand hatte bereits eine

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