Eiskaltes Herz
Leute zur Seite huschten, um mich dann, je nach Temperament oder Grad der Verblödung, ungeniert anzustarren, betreten oder verstohlen zu mustern oder mit einer gehässigen Bemerkung zu konfrontieren.
»Haben sie dich etwa schon wieder freigelassen?«
»Was will die denn hier?«
Ich erwiderte nichts darauf, wozu auch. Außer »Lass mich durch, verdammt noch mal«. Ich tat cool und ungerührt, meine Sonnenbrille bot mir dabei Schutz, aber innerlich kochte ich vor Wut. Und vor Angst. Die Leute benahmen sich wie ein Lynchmob, das ganze Schulgebäude sah aus wie ein Schrein, der dem Leben von Vanessa Klinger gewidmet war. Mädchen, die nie mit ihr geredet, die sie wahrscheinlich nur aus der Ferne beneidet und beobachtet hatten, benahmen sich, als ob ihr eineiiger Zwilling gestorben wäre. Überall lagen Blumensträuße herum, Fotosvon Vanessa hingen an den Wänden, Plüschtiere und letzte Briefe an Vanessa türmten sich vor dem Eingang der Schule. Dort hatten zwei jüngere Mädchen schwarze Schleifen an alle verteilt, auch an mich, die wir an unseren Jacken und Shirts befestigt hatten.
»Wieso hast du so was?«, fragte mich eine zischende Stimme.
Ich blieb stehen und sah hoch. Einer von Vanessas Klonen, eine ihrer »besten« Freundinnen, die sie zu Lebzeiten vergeblich versucht hatten zu kopieren. Sie sah mich hasserfüllt an.
»Was habe ich?« Ich hätte einfach weitergehen sollen, aber nun war es zu spät. Mit einem Ruck riss sie mir die schwarze Schleife ab, so grob, dass ein großes Loch in meinem Sweatshirt zurückblieb.
»Das!«, schrie sie. »Als ob dir das leidtäte! Weiß doch jeder, wie du Nessa gehasst hast. Weil du nie so sein konntest wie sie, du Freak! Und jetzt ist sie tot!« Sie schluchzte auf, wurde von einem regelrechten Heulkrampf gepackt, der ihr Make-up auf wundersame Weise nicht verschmierte. Sie musste sich heute früh bestens auf einen Tag voller öffentlicher Heulkrämpfe vorbereitet haben.
»Ich habe nichts damit zu tun«, antwortete ich gefährlich leise.
»Ach ja?«, schrie sie und sah sich verächtlich um. Eine Gruppe ihrer Freundinnen hatte sich um uns geschart, angriffslustig und sensationsgeil, alle in Schwarz.
»Das kannst du uns aber nicht erzählen. Eine Sauerei, dass sie dich in die Schule gehen lassen!«
»Spinnst du?«, feuerte ich zurück.
Jemand zog mich am Sweatshirt, ich schüttelte ihn ab.
»Lena, lass.« Es war Tine. Sie zog mich weg. »Hört auf damit«, sagte sie zu den Mädchen. »Davon wird sie doch auch nicht wieder lebendig.«
Sie murrten und schienen enttäuscht, gingen aber schließlich weiter.
»Sind die alle komplett irre oder was?« Ich merkte erst jetzt, dass ich zitterte. »Wieso denken die, ich hätte was mit Vanessas Tod zu tun? Weißt du, was ich für blöde SMS bekommen habe? Nadine ignoriert mich seit Neuestem. Wusstest du das? Und Julia, die …« Ich winkte ab. Julia machte immer nur, was andere ihr sagten. Wenn Nadine glaubte, dass ich für Vanessas Tod verantwortlich war, dann tutete Julia in das gleiche Horn.
Tine biss sich auf die Lippe. »Es ist wegen des Ohrrings«, sagte sie. »Das hat sich rumgesprochen. Und dann warst du gestern nicht in der Schule, die dachten alle, die Polizei hätte dich mitgenommen.«
»Gestern war fast keiner in der Schule«, verteidigte ich mich. »Ich hab gehört, wie Frau Pfeifer das gesagt hat. Außerdem ging es mir nicht gut.« Meine Mutter hatte mir gestern zum Glück erlaubt, noch einen Tag zu Hause zu bleiben, aber heute hatte sie darauf bestanden, dass ich in die Schule ging. Ehrlich,ich hätte mindestens zweitausend Orte nennen können, an denen ich im Moment lieber gewesen wäre, einschließlich des versifften Wohnwagens meines Onkels im Thüringer Wald.
»Ich weiß«, sagte sie erschöpft. »Das hab ich ja auch Julia und Nadine gestern versucht zu erklären, als sie bei mir waren. Wir haben bis in die Nacht hinein darüber geredet.«
So. Hatten sie das? Ohne mich. »Warum hast du mich nicht angerufen? Ich war ganz alleine, es ging mir total beschissen. Keiner hat mich angerufen. Keiner ruft mich mehr an!« Meine Stimme wurde immer lauter, so laut, dass ein kleiner Junge aus den unteren Klassen, der gerade vorbeiging, mich nachäffte. »Keiner ruft mich mehr an!«, quiekte er.
Ich hätte ihn am liebsten geschlagen.
Tine sah sich verlegen um. »Warum sagst du dann nicht einfach allen, was in der Walpurgisnacht los war und woher du den Ohrring hattest?«
»Weil ich es nicht weiß«, gab ich
Weitere Kostenlose Bücher