Eiskaltes Herz
war, setzte mich in die Sonne, schlang die Arme um meine Beine. Vorn am Weg tauchten immer mehr Leute auf. Spaziergänger, die am Ersten Mai wandern wollten und Rucksäcke voller gekochter Eier und belegter Brote mit sich schleppten. Sie murrten, als man sie bat, alternative Wege zu nehmen, und reckten neugierig die Hälse. Der Mann von der Kripo telefonierte, aber meine Eltern würden gleich kommen und diesen Albtraum beenden. Ich war plötzlich froh, noch nicht volljährig zu sein und auf dem Beisein meiner Eltern bestehen zu können. Ich wünschte mir nichts sehnlicher,als nach Hause zu gehen, in mein Bett. Unter meine Decke zu kriechen, die vertrauten Poster an den Wänden um mich herum, meinen Schreibtisch im Blick, meine Klamotten von gestern noch auf dem Boden, als ich mich voller Vorfreude auf die Walpurgisnacht vor dem Spiegel zehnmal mit Tine umgezogen hatte. Daneben die Pinnwand mit Fotos aus einer glücklicheren Zeit, eins davon mit mir und Leander auf dem Weihnachtsmarkt. Zeugen einer normalen Welt, in der Mädchen nicht tot unten am Felsen lagen oder im Wald auf dem Boden schliefen wie ein Tier und abgerissene Ohrringe in der Tasche hatten.
»Was ist eigentlich passiert?« Nadine stand auf einmal neben mir. Ich verspürte das dringende Bedürfnis nach ein bisschen Wärme, nach Halt und Umarmung, aber als ich meinen Kopf an ihr Bein lehnte, ging sie unmerklich ein Stück zur Seite.
»Ich weiß es nicht. Sie ist irgendwie da abgestürzt.«
»Das meine ich nicht. Ich meine den Ohrring.«
Ich sah hoch. Nadine hatte ihre enorme schwarze Haarflut hochgesteckt und wirkte mit ihrer Brille wie die strenge Geschäftsfrau, die sie bestimmt mal werden würde.
»Das weiß ich auch nicht. Ich habe ihn ihr nicht abgerissen.«
»Habt ihr euch gestern noch gestritten? Hast du sie angepöbelt? Hast du …?«
»Hast du, hast du. Ich weiß es nicht, okay? Mir ist schlecht.« Ich presste mein Gesicht auf die Knie.
Nadine setzte sich jetzt doch neben mich. »Lena …« Sie zögerte kurz. Dann senkte sie ihre Stimme. »Wenn du irgendwas Dummes gemacht hast, dann musst du das unbedingt der Polizei erzählen.«
Was? Was war das eben?
Weiter vorn brach ein Mädchen weinend zusammen, ich kannte sie flüchtig, eine aus der Elften. »Nessa!«, schrie sie hysterisch. »Das kann doch nicht sein. Das kann doch nicht sein!«
Nadine stand auf. »Denk daran, Lena. Ich muss jetzt zu den anderen.« Sie ging, um das fremde Mädchen in den Arm zu nehmen und zu trösten, während ich, ihre Freundin, hier alleine im Dreck saß. Und was sollte diese Bemerkung, was spielte sich Nadine eigentlich so auf? Hatte jemand mal in ihren Taschen nachgesehen? Sie war ja auch nicht gerade für ihre glühende Zuneigung zu Vanessa bekannt, aber das schien niemanden zu stören. Eigentlich war Nadine überhaupt nicht meine richtige Freundin, sie hing immer nur mit uns rum, weil sie mit Tine befreundet war. Aber Tine gehörte mir. Wo war sie? Ich sah mich um. Sie stand immer noch bei Leander. Bei den anderen. Bei all denen, die Vanessa gemocht hatten und jetzt um sie weinten. Zu denen ich nie gehört hatte und jetzt erst recht nicht gehörte.
Meine Eltern kamen wenig später angehastet, und als mein Vater mich beruhigend in den Arm nahm, heulte ich los.
»Ist ja gut, ist ja gut«, murmelte er, als wäre ich noch mal drei Jahre alt.
Meine Mutter presste sich nur die Hand vor den Mund und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Sind Sie die Eltern?« Der Mann von der Kripo trat hinzu.
Sie nickten. »Schrecklich, das alles«, murmelte meine Mutter.
»Wenzel, Kripo«, stellte er sich vor. »Ihre Tochter hatte den Ohrring von Vanessa Klinger in der Tasche und kann sich angeblich nicht erinnern, ob sie ihn abgerissen hat oder nicht.«
»Ohrring?«, fragte meine Mutter. Sie sah mich an. »Hat Vanessa dir den geborgt? Ich verstehe nicht ganz.«
Mein Vater hatte offenbar besser zugehört. »Abgerissen?«, fragte er ungläubig.
Der Mann namens Wenzel nickte. »Ein paar der jungen Leute hier haben uns erzählt, dass Ihre Tochter nicht sehr gut auf Vanessa Klinger zu sprechen war und gestern überall herumerzählt hat, dass sie sie nicht ausstehen kann. Und heute liegt das Mädchen tot unten am Felsen und hat ein zerrissenes Ohrläppchen und der Ohrring dazu steckt in der Tasche Ihrer Tochter … wie war gleich der Name?«
»Lena«, presste ich heraus.
»Sie wollen …« Meine Mutter brach ab. Ihre Augen wurden groß. »Also hören Sie mal, wissen Sie
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