Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
nachzudenken, ob es die richtige Entscheidung war.
Die Akten auf Ketolas Schreibtisch thematisierten in holprigen Worten den Mordversuch an einem hochrangigen Lokalpolitiker, der auf dem Marktplatz von Turku angeschossen worden war. Joentaa hatte das Mitte vergangener Woche ungerührt zur Kenntnis genommen, weil ihm nichts mehr wichtig gewesen war außer Sanna.
In der Kantine des Krankenhauses war der Vorfall ausgiebig diskutiert worden. Der Täter war unbekannt, Zeugen wollten einen unscheinbaren kleinen Mann mit Pistole gesehen haben, der unbehelligt in einen Linienbus gestiegen und davongefahren war. Sami Järvi, der Politiker, war nur leicht verletzt worden, aber Attentate auf Personen des öffentlichen Lebens waren in Finnland so ungewöhnlich, dass selbst der Streifschuss zum nationalen Gesprächsthema wurde.
Joentaa vermutete, dass Ketola in Arbeit erstickte und noch reizbarer war als sonst. Er sah auf die Uhr. In sechs Minuten, pünktlich um acht, würde Ketola sein Büro betreten. Er würde schlecht gelaunt sein, aber ein Muster an Disziplin. Er würde sich über sein Leben beklagen, über seinen Beruf und über die Menschen, mit denen er sich herumschlagen musste. Aber er würde alles tun, um seine Arbeit gut zu machen.
Joentaa hatte Ketola immer respektiert, aber nie gemocht. Zeitweilig hatte er sogar darüber nachgedacht, eine Versetzung zu erwirken, was Sanna ihm lächelnd und mit der spitzen Bemerkung, er sei unerträglich harmoniesüchtig, ausgeredet hatte. Er habe wohl kaum so zielstrebig auf das Dezernat für Mord und Totschlag hingearbeitet, um nach ein paar strengen Worten seines Vorgesetzten das Handtuch zu werfen. Joentaa hatte sich über Sanna geärgert und gleichzeitig gewusst, dass sie recht hatte.
Während er ziellos über die Seiten der Akten flog, fragte er sich, warum er zur Polizei gegangen war. Warum er so schnell wie der strebsamste Karriererist seine Lehrjahre absolviert hatte, warum er alles getan hatte, um sofort einen Platz in der Mordkommission zu erhalten.
Wenn Freunde ihn, manchmal amüsiert, nach den Hintergründen seiner Berufswahl fragten, antwortete er meistens flapsig, die kenne er selbst nicht. Es war besser, gar nichts zu sagen, als das, was er inzwischen für die peinliche Wahrheit hielt: dass er seinen Beruf gewählt hatte in der nebulösen Hoffnung, auf der Seite der Guten stehend das Böse zu bekämpfen.
Er betrachtete ein der Akte beigelegtes Porträtfoto des angeschossenen Politikers, als Ketola das Büro betrat, pünktlich auf die Minute und vermutlich in dem sicheren Glauben, wie immer als Erster zu kommen und als Letzter zu gehen.
Ketola blieb im Türrahmen stehen und starrte Joentaa fragend an. »Was machen Sie hier, Kimmo?«, sagte er nach einer Weile, und Joentaa bildete sich ein, mehr Verärgerung als Interesse herauszuhören. »Sie haben doch Urlaub.«
Erst jetzt, als er mit der Situation konfrontiert wurde, erahnte Joentaa, wie viele ähnlich lautende Fragen er hören und wie schwierig es sein würde, sie immer wieder zu beantworten.
Er zwang sich, ruhig zu sprechen: »Ich bin jetzt wieder hier. Sanna … ist gestern gestorben.«
Ketola blieb reglos stehen. Er trug eines seiner uniformähnlichen, zackigen Jacketts, ein dunkelgrünes. Für einen Moment glaubte Joentaa, in seinen Augen echtes Entsetzen zu lesen, aber er hatte sich sofort im Griff. »Das tut mir leid, Kimmo«, sagte er, gab sich einen Ruck und ging zu seinem Schreibtisch, ohne ihn anzusehen. Er stellte seinen Aktenkoffer ab, stützte seine Hände auf die Tischfläche und schien zu überlegen, was er als Nächstes sagen sollte.
»Ich weiß nicht, ob Sie uns in Ihrer jetzigen Situation helfen können«, meinte er schließlich, und Joentaa zuckte unter dem unmittelbaren Eindruck der Worte zusammen. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Kimmo … aber ich weiß, wie Sie sich fühlen, und ich halte es für ratsam, dass Sie Ihren Urlaub verlängern.«
Joentaa war zu verblüfft, um gleich antworten zu können. Er versuchte, sich dagegen zu wehren, aber wie am Tag zuvor bei Pasi und Liisa Laaksonen begann er auch jetzt, die Reaktion auf die Nachricht von Sannas Tod gedanklich auszuwerten. Die Distanz des Dienststellenleiters, die knappen Worte, mit denen er Sannas Tod in einem Satz registriert und zu den Akten gelegt hatte, schockierten Joentaa. Die Empfehlung, am besten gleich wieder nach Hause zu gehen, überraschte und irritierte ihn.
»Ich glaube nicht, dass Sie wissen, wie ich mich
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