Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
leugnete und niemand ihn daran erinnerte.
In der Küche stand seine Mutter und kochte Kaffee.
Für einen irrealen Augenblick glaubte er, es sei ein Trugbild und auch seine Mutter sei gestorben.
»Kimmo«, sagte sie, »ich habe dich nicht kommen hören.« Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn. Er wich zurück.
»Warum bist du hier?«, fragte er. »Wir hatten vereinbart, dass ich dich anrufe.«
Anita streichelte leicht über seine Hand und lächelte. »Jetzt bin ich da«, sagte sie.
So einfach war es immer gewesen.
Er dachte, dass er verärgert hätte sein sollen und dass sie älter geworden war. Sie stellte mit geübten Handgriffen Tassen auf ein Tablett, und er dachte, dass sie bald sterben würde.
Sie drehte ihm den Rücken zu. Er fragte sich, ob es ihr schwerfiel, ihn anzusehen.
Er fragte sich, was sie dachte und ob sie viel geweint hatte seit seinem Anruf. Er war sicher, dass sie geweint hatte, aber sie würde sich alle Mühe geben, es vor ihm zu verbergen. Sie würde allen gut zusprechen, sie würde Trost spenden, sie würde geduldig und aufmerksam zuhören, ohne jemals sich selbst zu thematisieren. Sie fragte ihn, wo der Zucker sei, und balancierte das Tablett Richtung Wohnzimmer.
Als sie Jussi lächelnd die Tasse entgegenschob und eine Hand auf Merjas Arm legte, freute er sich, dass sie da war.
Er setzte sich in den Sessel und wartete darauf, dass seine Mutter etwas sagen würde, aber sie sagte nichts. Während sich das Schweigen in die Länge zog, spürte er, wie seine Gedanken an Schwere verloren, bis sie zu schweben begannen.
Irgendwann hörte er seine Mutter leise mit Merja sprechen. Merja antwortete. Er verstand nicht, was sie sagte, aber es erleichterte ihn, sie sprechen zu hören.
Er versuchte, sich den Tag vorzustellen, an dem Merja sterben würde. Er fragte sich, wo er an diesem Tag sein würde und was er fühlen würde, wenn er von ihrem Tod erfuhr.
Er dachte an die Frau in dem blauen Haus und an den jungen Mann in der Jugendherberge, der so alt gewesen war wie er.
Er dachte an Sven und daran, dass er ihm nicht würde helfen können.
Er hörte gedämpft die ruhige Stimme seiner Mutter.
Er hörte das Klingen der Tassen.
Er versuchte, sich den letzten Moment seines Lebens vorzustellen und den ersten Moment danach, den es nicht geben würde.
Er versuchte, sich einen Moment vorzustellen, den es nicht gab.
In seinem Kopf summte eine Melodie, die immer wiederkehrte und von der er nicht wusste, woher er sie kannte.
21
Er kurbelte die Scheibe herunter und streckte den Kopf in den Fahrtwind.
Er sah hinauf in den klaren schwarzen Himmel und stellte sich vor, dass er sich langsam auf ihn herabsenkte.
Es war ein schöner Gedanke, ein euphorischer Gedanke.
Er hatte keine Angst. Er würde nie wieder Angst haben.
Er griff nach den kleinen gelben Sternen und zerdrückte sie in seinen Händen.
Er fuhr Schlangenlinien. Ein Wagen überholte ihn hupend.
Er dachte an den Polizisten, mit dem er am Nachmittag gesprochen hatte. Er hatte seine Rolle ganz mühelos gespielt. Er war erleichtert gewesen, dass es so einfach war.
Kein Mensch würde je begreifen, wer er wirklich war.
Er lachte. Er drückte das Gaspedal durch und sah sich noch einmal durch den langen Gang in der Jugendherberge laufen.
Es war dunkel.
Er schwebte.
Er hatte lange auf einem Parkplatz am Fluss gewartet.
Er hatte gewartet, bis er begriff, dass er unsichtbar und unantastbar war.
Er hatte die Angst verschluckt und die Welten gewechselt. Er hatte das Tuch mit dem Chloroform in eine Plastiktüte gelegt, um den Geruch zu verringern.
Im Gang hatte er Gesichter angelächelt, die ihn desinteressiert gestreift hatten. Er hatte Türen geöffnet. In einigen Räumen war es ganz ruhig gewesen. Er war vorsichtig näher getreten und hatte die Gesichter der Schlafenden betrachtet.
Er war unendlich mächtig gewesen.
In einem Zimmer hatten Jugendliche Karten gespielt und unfreundlich gefragt, was er wolle. Er hatte gelacht. »Entschuldigung, soll nicht wieder vorkommen«, hatte er gerufen, um deutlich zu machen, dass er nur einen dummen Scherz machte.
Irgendwo war Rockmusik gewesen.
Niemand hatte ihn beachtet.
Schließlich hatte er ihn gefunden. Es war eine Frage der Zeit gewesen.
Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen hatte er die Sichel des Mondes gesehen.
Er hatte lange an seinem Bett gestanden und seine regelmäßigen Atemzüge inhaliert.
Er war so ruhig gewesen. So groß.
Er hatte geduldig gewartet, bis er fühlte,
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