Eismord
Aber das Allerdümmste überhaupt? Jack, ich glaube, du weißt, was ich meine.«
»Das Allerdümmste schlechthin«, sagte Jack in einem Ton, der auswendig gelernt klang, »ist, wenn ein Angreifer einfach auf ein Opfer zumarschiert und ihm die Waffe aus der Hand nimmt. Weil die meisten Menschen, wenn’s darauf ankommt, einfach nicht fähig sind, auf jemanden zu schießen.«
»Er hat recht, Nikki. Sieh mal, sie trainieren Boxer, indem sie die Jungs auf einen Sack eindreschen lassen. Sie treffen immer und immer wieder. Zum Teil soll das Kraft bringen und die Schnelligkeit verbessern. Vor allem aber sollen sie auf diese Weise die natürliche Hemmung überwinden, einen anderen Menschen zu schlagen. Wenn es um Leben oder Tod oder die Ehre geht, wenn du dazu aufgerufen bist, die Familie zu schützen, dann musst du diese Hemmung überwinden. Ehrlich gesagt, mache ich mir Vorwürfe, Lemur nicht gut genug trainiert zu haben – so dass er, als es hart auf hart kam, diesen Bruchteil einer Sekunde zu lange gezögert hat. Deshalb bereite ich dich jetzt richtig vor, damit du nicht im mindesten zögerst, zu schießen. Du wirst wie Jack – ein Krieger bis ins Mark.«
Was sie sagten, klang irgendwie logisch. Nikki hatte sich auch gefragt, wieso Lemur nicht seine Waffe benutzt hatte. Armer Junge. Sie zog seinen iPod touch aus der Tasche. »Ehm, den hab ich aus Lemurs Zimmer. Meint ihr, er hätte was dagegen?«
Papa sah Jack an und dann Nikki. »Ich denke, er hätte gewollt, dass du ihn bekommst.« Er trat hinter die Bar, nahm ein Brandyglas, stellte es auf den Kaminsims und kam zurück, um sich hinter Nikki zu stellen.
»Weaver Stance.«
»Ich soll auf dieses Glas da schießen?«
»Genau das wirst du tun.«
»Vielleicht sollte ich stattdessen besser auf eine Blechdose schießen.«
»Hast du das gehört, Jack?«
»Hemmung«, sagte Jack. »Reine Hemmung höre ich da heraus.«
»Genau. Die macht sich ein Krimineller oder ein Terrorist oder ein Geheimagent eines Schurkenstaats zunutze – deine Hemmung. Das ist hoffentlich das letzte Mal, dass wir so was von dir hören, Nikki.«
Nikki nahm die leicht geduckte Haltung ein, stützte die rechte Hand mit der linken. Die Handfeuerwaffe reizte sie wesentlich mehr als das Gewehr. Sie fühlte sich so fest, so wohlgeformt und griffig an. Selbst ihr unverhältnismäßig großes Gewicht, sobald das Magazin eingelegt war, empfand sie als angenehm.
Nikki drückte ab, und das Glas zersprang. Jack stieß einen Schrei aus.
»Gut«, sagte Papa. »Aber du hast gezögert.«
Im Lauf der nächsten halben Stunde stellte er weitere Gläser, eine dekorative Vase, einen niedlichen alten Teddybären auf; es folgten mehrere Hüte, verschiedene Hemden und Jacken von Lloyd, gerahmte Fotos, ein paar Statuen. So wie Papa und Jack damit kämpften, mussten sie ganz schön schwer sein. Die größten Probleme hatte sie mit dem Teddybären.
»Erschieß ihn«, sagte Papa. »Rette dein eigenes Leben. Rette deine Familie. Erschieß ihn.«
Nikki schoss auf das Stofftier, das in die Luft wirbelte und mit dem Gesicht nach unten landete.
Als das Füllmaterial aus seinem Rücken quoll, zog es ihr das Herz zusammen.
Bei den Statuen war es einfacher. Eine davon war ein griechischer Gott oder so. Dann ein toter Römer. Nikki hatte einmal eine ähnliche Statue in einem Museum gesehen. Langweiliges Ding mit einem winzigen Pimmel. Sie schoss auf die blinden Augen und pustete ihm ein Stück Stirn und Locken weg. Beim nächsten Schuss zerfiel die halbe Nase zu Staub. Plötzlich wirkte der Mund zart, fast wie von einer Frau – kleine geschwungene Oberlippe, plump herunterhängende Unterlippe. Noch ein paar Schüsse, und es gab kein Gesicht mehr und kaum noch einen Kopf.
Die ganze Zeit sagte Papa wundervolle Dinge zu ihr:
Das ist unser Mädchen. Du bist Nikki the Kid. Du machst mich stolz.
Sie hätte nie gedacht, dass Worte eine solche Macht haben konnten. Sie hatte im Fernsehen mal Bilder von einer öden, zugefrorenen Landschaft gesehen, in der große Eisbrocken wegbrachen und ins Meer rutschten. So etwas geschah gerade in ihr. Eine scharfe Automatik in der Hand, mit der sie Gipsgötter in tausend Stücke explodieren ließ, und sie fing an zu schniefen. Vielleicht ging ihr auch Lemur immer noch nicht aus dem Kopf.
»Du darfst nicht mal daran denken«, sagte Papa. »Keine Hemmung. Kein Zögern. Und vor allem keine Tränen.«
Er zog den Stecker des Fernsehers. Es war ein Flachbildschirm so wie der im Obergeschoss,
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