Eisnacht
»Lilly, ist alles okay?«
Sie hob erschrocken den Kopf. »Warum?«
»Du bist so still.«
»Ich bin nur müde«, log sie und aß schweigend weiter.
Sie zogen das Mahl so lange wie möglich hin, aber als sie fertig gegessen hatten, sahen sie sich immer noch langen Nachtstunden gegenüber, in denen sie nichts mehr zu tun hatten.
Nach minutenlangem Schweigen, das nur vom Knistern des Feuers unterbrochen wurde, sagte er: »Du kannst dich jederzeit schlafen legen.«
»Ich kann bestimmt nicht schlafen.«
»Das hast du aber vorhin gesagt.«
»Ich bin müde, aber ich kann noch nicht schlafen.«
»Genauso geht es mir auch. Ich bin völlig erschöpft, aber hellwach.«
»Der lange Mittagsschlaf…«
»Hmm.«
Wieder wurde es still. Schließlich sah sie ihn an. »Warum bist du bei deinen Großeltern aufgewachsen?«
»Meine Mom und mein Dad kamen bei einem Autounfall ums Leben. Der Fahrer eines Sattelschleppers übersah die Warnschilder, fuhr zu schnell in eine Baustelle, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr sie im wahrsten Sinn des Wortes platt. Ihr Auto war flach wie ein Pfannkuchen. Erst Stunden später hatten sie alle Körperteile aus dem Wrack geschnitten.«
Sein leicht ironischer Ton konnte sie nicht täuschen. Damit konnte er nicht die Verbitterung überspielen, die darunter lag.
»Damals wurden mir die Einzelheiten vorenthalten«, sagte er. »Aber Jahre später, als ich alt genug war, um danach zu fragen, gab mir mein Großvater den Zeitungsartikel über den Unfall zu lesen. Meine Großeltern hatten dabei ihre Tochter verloren. Ich wurde zum Waisen. Der Lastwagenfahrer kam ohne einen Kratzer davon.«
»Wie alt warst du?«
»Als es passierte? Acht. Mom und Dad waren für ein verlängertes Wochenende verreist, um ihren zehnten Hochzeitstag zu feiern, und hatten mich bei meinen Großeltern abgesetzt.« Er griff nach dem Schürhaken und stocherte in der Glut.
»Als ich nach der Beerdigung so langsam begriff, dass es kein böser Traum war, dass sie wirklich tot waren, wollte ich um keinen Preis in unser altes Haus zurück. Meine Großeltern fuhren mit mir hin, um meine Sachen zusammenzupacken, aber ich fing noch im Vorgarten an zu schreien und zu toben. Ich wollte das Haus auf keinen Fall betreten. Ich konnte einfach nicht noch mal in diese Räume zurückkehren, nachdem ich wusste, dass Mom und Dad nicht mehr da waren und dass sie nie mehr zurückkehren würden.«
»Du hast sie geliebt«, sagte sie ruhig. Er zuckte verlegen mit den Achseln. »Ich war noch klein. Für mich war alles, was sie für mich getan haben, selbstverständlich, aber… ja, ich habe sie geliebt. Meine Großeltern waren trotzdem nett. Obwohl ich ihnen bestimmt einen Haufen Unannehmlichkeiten gemacht habe, haben sie mich das nie spüren lassen. Im Gegenteil, ich habe nie eine Sekunde daran gezweifelt, dass sie mich liebten.«
»Bist du jemals in euer Haus zurückgekehrt?«
»Nein.«
Sie stützte das Kinn auf die angewinkelten Knie und betrachtete sinnend sein Profil. »Du bist auch jetzt so gut wie nie zu Hause. Du hast einen Beruf gewählt, bei dem du ständig auf Reisen bist.«
Er ließ ein sprödes Lächeln aufblitzen. »Ich wette, diese Erkenntnis wäre ein Fest für jeden Psychologen.«
»Hast du den Beruf unbewusst gewählt? Oder war es eine überlegte Entscheidung?«
»Meine Frau hielt sie für wohlüberlegt.«
»Deine Frau?«
»Vergangenheitsform. Wir waren ganze dreizehn Monate verheiratet.«
»Wann war das?«
»Vor langer Zeit. Ich war kaum alt genug zu wählen und erst recht zu jung zum Heiraten. Ich hätte es nicht tun sollen. Ich war egoistisch und egozentrisch. Nicht bereit, schon erwachsen zu werden, und eindeutig nicht gewillt, mich vor jemandem zu verantworten. Über meine Wanderlust hat sie sich am meisten beklagt. Und über vieles andere. Und immer zu Recht«, ergänzte er mit einem melancholischen Lächeln.
Dass er seine Eltern verloren hatte, hatte sein Leben bis ins Erwachsenenalter beeinflusst, sich auf seine Entscheidungen ausgewirkt und seine Ehe scheitern lassen. Welche anderen emotionalen und psychologischen Narben hatte dieser tragische Unfall in dem achtjährigen Ben hinterlassen? Hatte er seine Seele deformiert und verkümmern lassen? Wutanfälle bekam er keine mehr, aber womöglich hatte sein aufgestauter Zorn andere Ventile gesucht.
War er Blue?
Das Band, die Handschellen, seine widersprüchlichen und ausweichenden Antworten waren zu verdächtig, als dass sie darüber hinwegsehen
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