Eisnacht
War Tierney tot? Dutch hatte auf ihn geschossen, das wusste sie mit Sicherheit. Andererseits hatte er gesagt, dass Tierney »zur Strecke gebracht« worden war. Er hatte nicht gesagt, dass er tot war. Falls Tierney noch am Leben war, würde er sie retten. Das wusste sie genau. Was konnte sie bis dahin tun, um sich selbst zu retten und William Ritt davon abzuhalten, sie zu töten? Fliehen konnte sie nicht. Stundenlang hatte sie vergeblich versucht, ihre Hände aus den Handschellen zu ziehen.
Wenn sie ihre Angst zeigte, würde sie ihm genau das geben, was er wollte. Instinktiv erkannte sie, dass es ihm Freude bereitete zu töten. Dadurch verschaffte er sich eine Identität, einen festen Stand in der Gemeinschaft, den er ansonsten nicht hatte. Er war Blue, der Mann, den alle fürchteten, nach dem alle fahndeten. Das Alter Ego des peniblen, geschwätzigen Apothekers war ein Frauenmörder. Wie musste ihn das aufgeilen.
Er behauptete, ein geringes Selbstwertgefühl zu haben, doch sie vermutete das Gegenteil. Er hatte ein aufgeblasenes Ego und hielt sich für intellektuell überlegen. Zwei Jahre lang hatte er alle an der Nase herumgeführt, doch bis heute konnte er das niemandem erzählen. Sie würde ihm Gelegenheit geben, ordentlich damit anzugeben. Sie hatte nur eine Chance zu überleben, wenn sie ihn am Reden hielt, bis Hilfe - bitte, lieber Gott, lass es Tierney sein - eintraf.
»Wie haben Sie Ihre Opfer ausgewählt? Das hat alle Ermittler irritiert. Die vermissten Frauen hatten doch nichts gemeinsam.«
»Mich.« Er schenkte ihr ein eisiges Lächeln. »Mich hatten sie gemeinsam. Alle haben mich angesehen, als sie starben. Bald wirst auch du das mit ihnen gemeinsam haben.«
Gib ihm nicht die Befriedigung, deine Angst zu sehen. »Und abgesehen davon?«
»Das ist ja das Prachtvolle daran. Profiler und Ermittler suchen immer nach Mustern. Bei mir gibt es keines. Ich habe jede aus einem anderen Grund getötet.«
»Und aus welchem?«
»Zurückweisung.«
»Bei Torrie Lambert?«
»Lang vor ihr.«
»Es gab noch mehr?«
»Eine junge Frau auf dem College.«
»Ihre Freundin?«
»Nein, das hätte ich mir gewünscht, aber sie lachte mich aus, als ich sie um ein Date bat. Sie hatte angenommen, ich sei homosexuell. Wie grausam, mich so zu verspotten. Es… es ging mit mir durch. Ich nehme an, das ist das treffende Wort für das, was damals passierte. Sie lachte mich aus. Ich versuchte, sie zum Schweigen zu bringen.
Als mir klar wurde, dass sie tot war, tat sie mir nicht leid, aber natürlich hatte ich Angst, dass man mich fassen könnte. Darum ließ ich es wie einen Raubüberfall aussehen. Ihr Portemonnaie und ihr Schmuck liegen in einer Schachtel unter meinem Bett. Bis zum heutigen Tag wurde dieser Mord nicht aufgeklärt.«
»Niemand hat Sie je verdächtigt?«
»Niemand. Ich war so unbedeutend, verstehst du? Für viele bin ich das immer noch.«
»Marilee hat nie Verdacht geschöpft?«
Er schnaubte verächtlich. »Meine Schwester war viel zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes schmutziges Geheimnis zu bewahren, als dass sie sich mit mir abgegeben hätte. Ich wünschte, ich hätte sie umgebracht, als wir noch Kinder waren. Ein oder zweimal hatte ich es vor, aber es kam nie dazu.«
Er ruckte wieder an dem blauen Band. »Ich frage mich, wie Tierney darüber gestolpert ist.«
Er kniete immer noch vor ihr, und obwohl er sie kein einziges Mal berührt hatte, bibberte sie vor Angst. Wie lange konnte sie ihn noch am Reden halten? Wo blieb der Helikopter? Wo blieb Tierney? Sie weigerte sich zu glauben, dass er tot war.
»Sie haben mir erzählt, wie Sie Ihre Opfer ausgesucht haben. Ich habe verstanden, warum Sie das Mädchen umgebracht haben, das Sie ausgelacht hat. Aber Torrie Lambert kannten Sie doch gar nicht, oder?«
»Nicht vor jenem Tag, nein. Sie hatte sich von der Gruppe entfernt und war ein ziemliches Stück vom Weg abgekommen. Ich begegnete ihr, als sie die Straße an der Westflanke entlangging, in der Nähe unseres Elternhauses, wo ich an diesem Tag arbeitete. Ich verwickelte sie in ein Gespräch, hörte mir ihre Trauergeschichte an, gab ihr Ratschläge, doch als ich sie trösten wollte…«
»Trösten?«
»Sie berühren. Da hat sie sich gewehrt.«
»Haben Sie sie vergewaltigt?«
Seine Augen blitzten zornig. »Ich kann ihn hochbekommen. Das kann ich dir versichern. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich es dir beweisen.«
Seine Reaktion bewirkte, dass Lilly das Gegenteil glaubte, aber sie war nicht so dumm,
Weitere Kostenlose Bücher