Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
zeigen, mit wem sie es zu tun hatten: mit Snake. Wieder wurde er von dem Penner mit der Fliegermütze zurückgeschubst, diesmal packte er ihn richtig an den Schultern dabei, er hatte mehr Kraft, als Yannick gedacht hätte. Als er ihn am Haken gehabt hatte, war er nur ein nasser Sack gewesen, der sich eingepinkelt hatte. Ja. Er war einer der Ersten gewesen. Yannick empfand für einen Moment lang fast eine gewisse Zärtlichkeit für den Penner. So als würden sie sich gut kennen, als hätten sie zusammen was durchgemacht.
Angel hielt sich immer noch an seinem Jackenärmel fest. Yannick konnte spüren, dass sie Angst hatte. Sie brauchte keine Angst zu haben. Er würde sie beschützen.
»So«, sagte der Mann mit der Fellkappe, »denn mal her mit den Telefonen.«
Er griff in die rechte Tasche seines flusigen Mantels und holte eine Pistole raus. Yannick hatte keine Ahnung, ob die echt war. Sie sah verdammt echt aus.
»Telefone!«, sagte der Mann, jetzt etwas lauter. »Oder soll ich sie mir holen?«
Yannick griff in seine Hosentasche, holte sein Telefon raus und hielt es dem Mann hin. Der nahm es, gab es einem der anderen Obdachlosen und sagte:
»Akku rausholen.«
Dann hielt er Angel seine Hand unter die Nase.
»Telefon, Fräulein.«
Angel rückte ihr Telefon raus. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie ihr Telefon abgegeben. Als sie zusehen musste, wie einer der Obdachlosen mit seinen schmutzigen Fingern den Akku da rauspulte, hätte sie schreien können vor Wut.
Als die Sache mit den Telefonen erledigt war und der Mann mit der Fellmütze die Einzelteile in seinem Mantel verstaut hatte, richtete er die Pistole auf Angel, zeigte mit der freien Hand in Richtung Glashüttenstraße und sagte: »Und jetzt Abmarsch, ihr Früchtchen. Da lang.«
Yannick nickte Angel zu, und sie setzten sich in Bewegung. Der Mann nahm die Pistole ein Stück runter, pflückte Angel von Yannick weg und hielt ihr die Pistole in den Rücken.
»Und denk nicht mal drüber nach abzuhauen, mein Freund«, sagte er zu Yannick, »sonst ist dein Mädchen tot.«
So schlichen sie durch die Glashüttenstraße. Ein bizarrer Tross. Zwei junge, bockige Menschen vorweg, ein zerlumpter Haufen hinterdrein, düster brummend wie ein Gefangenenchor. Irgendwo in der Mitte des Heiligengeistfelds, es war dunkel, eisig und kalt, bat der Mann mit der Fellmütze einen seiner Kollegen, mal kurz die Waffe zu halten. Er holte aus der Innentasche seines riesigen Mantels einen Schürhaken heraus.
Jetzt erschlagen sie uns, dachte Yannick, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er Angst. Snake, dachte er, verdammt. Snake würde sich nicht so einfach erschlagen lassen. Aber er war nicht Snake. Er hatte nichts von dem, was Snake hatte.
Snake war nicht mehr da.
Der Mann mit dem Schürhaken bückte sich und hebelte einen Kanaldeckel auf, während einer, der aussah wie ein Geier, die Pistole hielt. Der Geier wirkte zappelig. Zu viel Alk, das sah man sofort. Vielleicht, dachte Yannick, könnten wir jetzt abhauen. Er sah sich um. Das Heiligengeistfeld war ein schwarzes Loch. Rechts sah er die Umrisse des Bunkers, da vorne musste die Budapester Straße sein, hinter ihnen war die Feldstraße. Alles groß und mächtig. Er und Angel waren zu klein. Sie würden es nicht schaffen. Es war Heiligabend. Es war keiner da, der das alles hätte beobachten können.
»Bitte schön«, sagte der Mann mit dem Mantel, zeigte auf das dunkle Loch im Boden, verstaute den Schürhaken in seinem Mantel und nahm die Pistole wieder an sich. »Bitte schön«, sagte er noch mal. Seine Stimme schnarrte.
Er will uns in der Kanalisation ertränken, dachte Yannick, und er wusste nicht, ob er eigentlich froh darüber sein sollte, nicht auf der Stelle erschlagen worden zu sein. Kanalisation war ja auch kein Zuckerschlecken.
Angel dachte an gar nichts. Die Kälte hatte von ihr Besitz ergriffen, schon vor langer, langer Zeit. Hatte ihr Herz gefrostet. Und die Kälte in ihr reagierte jetzt genauso wie in den Situationen zu Hause, wenn ihre Mutter sie anschrie und schubste und schlug: Sie fror auch die Gedanken ein. Sie drehte Angel einfach runter. Stellte alle Funktionen ab. Wenn die Kälte übernahm, war Angel nicht mehr da.
Als wäre sie ein Roboter, kletterte sie in den Schacht, ließ sich dann fallen und landete mit den Füßen auf dem Boden eines Tunnels. Yannick kletterte etwas vorsichtiger nach unten; als auch er in der schummrigen Röhre stand, sahen sich die beiden an. Vor ihnen lag eine
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